Aus dem Alltag eines Totengräbers
Wenn man das Wort Totengräber hört, hat man sofort ein Bild im Kopf: Ein älterer, blasser und stiller Mann mit ernster Miene und dunkler Kleidung. Doch Lukas passt nicht wirklich in dieses Bild. Lukas ist 25 Jahre alt, und ganz und gar nicht blass. In seiner humorvollen und abgeklärten Art hat er uns von seinem Beruf erzählt, und uns einen Einblick in den Alltag des Totengrabens ermöglicht.
Das Telefon klingelt, der Bestatter ist dran. In dem kleinen Ort, in dem Lukas (Name von der Redaktion geändert) arbeitet, ist gestern eine ältere Dame verstorben. Lukas ist seit fünf Jahren Gemeindearbeiter. Die meiste Zeit kümmert er sich dabei um Reparaturen im Ort und die Grünanlagengestaltung. In Daxbach leben nur etwa 900 Personen, deshalb rentiert es sich nicht, einen eigenen Totengräber einzustellen nur fürs, naja, Totengraben eben. Das muss Lukas nur etwa zwei bis vier Mal pro Monat übernehmen. „Wir haben da eine Art Dreier-Regel im Ort. Sterben zwei Menschen schnell hintereinander, kann man auch gleich mit einer dritten Person rechnen“, erzählt er. Meistens würden sich die Tode auch bei einem Wetterumschwung häufen. Bei schnellem Wechsel von heiß auf kalt oder kalt auf heiß hätten sie am meisten zu tun.
Zwei Tage später ist es dann so weit. Der Termin für die Beerdigung steht fest und das Grab muss vorbereitet werden, und das obwohl es regnet. Bestattungen lassen sich nämlich nur schwer verschieben. Zusammen mit einem Kollegen baut Lukas dafür zuerst die Erdkiste auf, eine Art Alubox, in der die Erde zwischengelagert wird. Auf dem Friedhof in Daxbach werden die Gräber fast immer händisch gegraben, denn die Gänge sind zu schmal für einen Bagger. Deshalb beginnt Lukas nun mit einer einfachen Schaufel, das Grab auszuheben. Sein Kollege hilft, indem er die Erde in die Kiste weiterschaufelt. Zwischendurch bringt er etwas davon weg, denn der Sarg schluckt später einiges an Platz. Beide tragen Schutzkleidung und Gummistiefel. Der Regen wird stärker, Lukas wischt sich die Nässe aus dem Gesicht.
Graben oder begraben werden
Beim Graben müssen Gemeindearbeiter immer zu zweit sein, das ist Vorschrift. Denn die Arbeit des Totengräbers ist nicht nur eine körperlich sehr anstrengende, sondern auch ab und an eine gefährliche. Gerade an einem regnerischen Tag wie heute kann es passieren, dass die Wände des Grabes einstürzen. Lukas wurde schon einmal fast verschüttet und konnte gerade noch so aus der Grube klettern. Im Durchschnitt gräbt er bis zu 2,5 Meter tief, da ist das Rausklettern oft gar nicht so einfach.
Das kratzige Geräusch der Schaufel erfolgt schon fast rhythmisch. Ratsch, ratsch, heben. Ratsch, ratsch, heben. Die Grube wird immer tiefer und der feuchte Erdhaufen in der Alukiste immer höher. Ein dumpfes Geräusch unterbricht das rhythmische Rascheln. Es kündigt einen Sarg an, der bereits in der Grube liegt. Das ist bei den meisten Gräbern der Fall. Mit etwas Glück liegt dieser schon tief genug, und man kann den nächsten einfach darüber beerdigen. Nicht bei diesem Grab. Das bedeutet eine Exhumierung. Die alte Leiche samt Sarg muss entnommen werden, bevor es weitergehen kann. Danach wird tiefer gegraben, damit beide Särge Platz finden.
Lukas steht direkt über der Leiche und muss den Sarg seitlich freilegen. Es liegt ein eigenartiger, süßlicher Dunst in der Luft. „Den Geruch, den menschliche Leichen abgeben, vergisst du nie wieder“, erklärt er das seltsame Odeur. Als Lukas gemeinsam mit seinem Kollegen versucht, den Sarg mit Seilen aus dem Grab zu ziehen, bricht dieser an der Seite auf. Das passiert bei Exhumierungen fast immer, weil das Holz vom Druck der Erde schon sehr angegriffen ist. Es bleibt nichts anderes übrig, als die Fichtenholzbretter auseinanderzuziehen und die Leiche in einen Transportsarg zu heben. Bis das Grab fertig ist, wird sie in einem Kühlhaus zwischengelagert. Die Erde in Daxbach ist äußerst lehmig, was bedeutet, dass die Leichen auch nur sehr langsam verrotten.
Wachsleichen und Plastiksackerl
In manchen Gräbern liegen sogar schon mehrere Särge, wie bei einem Ehepaar, das Lukas vor einigen Monaten exhumieren musste. Die Toten waren schon fast 30 Jahre unter der Erde und wurden recht kurz nacheinander bestattet. Da die Särge eben meistens aufbrechen, bekommt Lukas die Leichen fast immer zu Gesicht. Die erste, die ausgegraben wurde, war schon fast zur Gänze zersetzt. Aber nicht so die zweite. Denn der obere Sarg schloss die Sauerstoffzufuhr ab, was den Toten stattdessen konservierte; er sah aus, als wäre er aus Wachs. „Die Leiche war ein einziger Paraffinklumpen. Wahrscheinlich hätte sie eine gute Kerze abgegeben“, erzählt Lukas und wird dabei etwas blass. Bei seiner Arbeit wurde ihm bisher nur selten schlecht, aber da konnte selbst er sich nicht mehr zusammenreißen.
Das einzige, was Lukas noch schlimmer findet als Wachsleichen, sind die Toten, die in Plastik eingewickelt wurden. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden Verstorbene häufig in Plastiksäcke gehüllt und erst dann in einen Sarg gelegt. Damals gab es noch keine flächendeckenden Kühlhäuser, und so sollte der Verwesungsgeruch bis zur Beerdigung verhindert werden. Auch nach 50 Jahren stößt Lukas bei Exhumierungen auf Leichen, deren Plastiksack noch vollkommen intakt ist. „Sobald der Sarg dann auseinanderbricht, macht es halt Platsch“, bemerkt Lukas trocken.
Grabstätten als Fundus
Särge sind aber nicht das einzige, worauf Lukas heute beim Graben stößt. Der Friedhof ist schon alt und die Gräber wurden schon häufig benutzt. Oft kann er gar nicht genau ausmachen, was er da alles in die Erdkiste schaufelt. Gelbliche Fleischfetzen, Knochen, Schuhe und Kleidung schockieren ihn schon lange nicht mehr. Lukas nimmt das mittlerweile nur noch am Rande wahr. Ab und an fand er sogar schon Schmuck: eine Perlenkette, einen Diamantring und ein Goldarmband. So etwas bringt Lukas dann ausnahmslos zum Bestatter. „Um kein Geld der Welt würde ich das behalten wollen, egal was es wert ist“, schüttelt er den Kopf.
Manchmal kommt er sich vor, als wäre er in einem schlechten Film gelandet. Einmal hörte er beim Graben etwa ein Knacksen, und als er die Schaufel aus der Erde zog, steckte ein Schädelknochen auf der Spitze. Als Totengräber ist oft auch eine gesunde Portion Humor gefragt. Etwa musste vor einigen Wochen ein Grab wieder ausgehoben werden, in dem ein Bekannter seines Arbeitskollegen lag. „Hätte nicht gedacht, dass ich dem mal am Schädel steh“, meinte der dazu. Anders als mit verstörenden Witzen kommt man in dieser Branche wahrscheinlich nur schwer über den Tag.
Ein Date mit dem Tod
Auf Lukas Beruf reagieren andere Leute oft verwundert. Die meisten Menschen schockiert, dass er tatsächlich noch händisch graben muss, denn das kennen viele nur aus alten Filmen. „Ein Mädchen mit der ich mal ein Date hatte, war sogar etwas angeekelt. Trotzdem hat sie weiter nachgefragt, und als ich ihr dann ein paar Geschichten erzählt habe, war die Stimmung endgültig dahin“, erzählt Lukas lachend. Es gab kein zweites Date, doch diese Begegnung ist eher eine Ausnahme. Normalerweise fasziniert das Totengraben die Menschen, und sie wollen Anekdoten aus Lukas Alltag hören. Seine jetzige Partnerin hat ebenfalls gar kein Problem mit seiner Arbeit. Er selbst kam eher durch Zufall an diesen Job. Lukas hörte kurz nach seiner Matura von der freien Stelle in seinem Ort und bewarb sich, weil er gerne in der Natur und im Freien arbeitet. Mehr steckt nicht dahinter.
Nicht nur ausgraben, sondern auch eingraben
Endlich haben Lukas und sein Arbeitskollege das Grab nun tief genug ausgehoben. Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu, denn die Graberei samt Exhumierung dauerte fast acht Stunden. Gerade rechtzeitig werden die beiden fertig, denn im Dunkeln lässt sich diese Arbeit nicht gut verrichten. Die Wände der Grube werden noch mit Platten fixiert, damit bis zum nächsten Tag nichts einbricht. Doch ihr Werk ist damit noch nicht getan, denn auch bei der Beerdigung werden sie gebraucht.
Der nächste Tag bricht an, Lukas bereitet sich vor. Statt seiner schlichten Arbeitskleidung ist heute der schwarze Anzug dran. Um zehn Uhr beginnt die Bestattungsmesse, doch Lukas muss schon etwas früher am Friedhof sein. Der Bestatter und er inspizieren das Grab und fixieren noch Stangen quer über der Grube, auf denen der Sarg später zwischendurch abgesetzt wird, bevor er mit Seilen beigesetzt werden kann. Die Angehörigen finden sich in der Kirche ein und die Messe beginnt. Lukas wartet solange mit seinem Kollegen draußen. Nach etwa einer Stunde erreichen der Trauerzug und die Hinterbliebenen das Grab. Oft singt noch ein Chor oder es wird ein Musikstück gespielt, so wie heute, und der Sarg wird beigesetzt.
Der schwerste Akt
Der Pfarrer spricht noch ein paar letzte Worte. Nun ist Lukas dran, das Kondolieren beginnt. Er reicht den Trauernden nacheinander eine kleine Schaufel mit etwas Erde, die sie ins Grab schütten können. Dabei richtet er seinen Blick eher in die Ferne. Lukas tut sich schwer damit, den Angehörigen mit all ihren Emotionen ins Gesicht zu schauen. Trotz der harten Arbeit, die er verrichtet, und den sonderbaren Dingen, mit denen sie ihn konfrontiert, ist dieser Teil der schlimmste für ihn. Denn beim Graben kann Lukas seinen Kopf besser ausschalten und ausblenden, was er da gerade tut. „Bei meinem ersten Begräbnis hab‘ ich ihnen in die Augen gesehen. Das mach‘ ich nie wieder. Ich muss mich da ein bisschen selbst schützen“, erklärt er später. Oft wird den Totengräbern an dieser Stelle auch Trinkgeld gereicht. Diesen Brauch kennen aber eher ältere Leute. Zwischen fünf und 120 Euro war schon alles dabei.
Nach dem Schäufelchenreichen verlässt Lukas den Friedhof, um sich umzuziehen und den Trauernden noch etwas Zeit zu geben. Wenn alle das Grab verlassen haben, sind die beiden Totengräber wieder gefragt. Die Kiste mit der Erde wird in die Grube gekippt und der Rest wird hineingeschaufelt. Am Ende klopft Lukas noch die Erde fest und säubert den Grabstein. Die Gestecke und Blumen finden wieder auf das Grab und die Arbeit ist getan. „Mir ist wichtig, dass die Menschen nicht auf Totengräber herabschauen“, sagt Lukas. „Irgendwer muss es ja machen. Das Sterben gehört halt zum Leben dazu, und eines Tages sind wir alle an der Reihe.“
Ihr wollt noch mehr Lesestoff? Wir erzählen euch, warum manche von uns so gerne auf Friedhöfen spazieren gehen.