CHRISTL und Catcalls of Vienna: Gemeinsam gegen Catcalling
Catcalling nennt man die verbale sexuelle Belästigung, die für viele von uns leider längst zum Alltag gehört. Warum man gerade deshalb noch viel lauter öffentlich darüber sprechen muss und wie die Auseinandersetzung damit aussehen kann, darüber haben wir mit Musikerin CHRISTL und Vary von Catcalls of Vienna gesprochen.
Am 14. Mai 2021 hat Sängerin CHRISTL ihre erste Single veröffentlicht. In Object of Desire thematisiert sie mit starker Stimme und eingängigen Beats, wofür vielen von uns manchmal die Worte fehlen: Catcalling, die verbale sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum. Vary ist eine der Aktivist*innen hinter dem Instagram-Account Catcalls of Vienna, der nach dem New Yorker Vorbild Berichte von sexueller Belästigung in Wien sammelt und mit Kreide dort auf den Boden schreibt, wo sich die Situationen zugetragen haben. Für den Release von CHRISTLs Song haben sich die beiden zusammengetan und zu einer Kunstaktion im öffentlichen Raum aufgerufen, bei der Künstler*innen und alle, die dazu beitragen wollten, den Songtext, Erfahrungsberichte und andere Kunstwerke auf den Boden kreideten. Auch wenn der Regen am nächsten Tag die Kreide leider weggewaschen hat, ist die Diskussion rund ums Thema Catcalling nach wie vor in vollem Gang. In einigen europäischen Ländern gilt die verbale sexuelle Belästigung bereits als Straftat und wird mit Geldstrafen geahndet. Catcalls of Graz, die mit der Wiener Community in engem Austausch sind, haben eine Petition ins Leben gerufen, die fordert, dass verbale sexuelle Belästigung auch in Österreich strafbar wird.
Am 16. Juli hat CHRISTL ihre zweite Single Purple veröffentlicht, in der sie sich mit ihren eigenen Vorstellungen von Identität und Gender Expression auseinandersetzt. Wir haben CHRISTL und Vary zum gemeinsamen Interview gebeten.
1000things: Was war euer Antrieb, sich mit dem Thema Catcalling auseinanderzusetzen?
CHRISTL: Ich habe vor einem Jahr ein Praktikum gemacht und hatte in der Mittagspause ein Catcalling-Erlebnis, das so offensiv sexistisch und für mich so schlimm war, dass ich den ganzen Tag im Office saß und darüber nachdachte. Am Abend bin ich heimgegangen und habe den Song geschrieben.
Nachdem ich zu Mittag beim Supermarkt war und die Straße zum Office hinauf gegangen bin, kam ein Mann dieselbe Straße hinunter gefahren. Er hat seine Autotür aufgemacht und ist parallel zu mir rückwärts gefahren, hat ständig Dinge in meine Richtung geschrien und wollte, dass ich in sein Auto einsteige. Das war der Startpunkt für mich, an dem ich begonnen habe, mich intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen. Ich habe in meinem Freundeskreis herumgefragt und Gespräche im privaten Kreis begonnen. Da wurde mir erst so richtig bewusst, wie sehr solche Erlebnisse im Alltag verankert sind und dass sie oft nebenbei passieren.
Vary: Bei mir war es so, dass ich während einer Reise Sophie Sandberg kennenlernen durfte, die Catcalls of NYC gegründet hat, und ich war sofort überzeugt von dem Projekt. Je mehr man sich mit dem Thema auseinandersetzt, desto deutlicher sieht man das Problem. Mir ist wichtig, einen Dialog aufzubauen, weil unsere User*innen sehr Persönliches mit uns teilen. Durch diesen Austausch kommt man immer intensiver mit dem Catcalling-Thema in Berührung.
1000things: Wie sind die Reaktionen, die ihr bekommt?
Vary: Der Person, die das Erlebnis für immer mit sich tragen muss, fällt oft ein Stein vom Herzen, wenn sie ihre Geschichte mit uns teilt. Wahrscheinlich tut es auch einfach gut, sich mal auszusprechen. Viele haben das über Jahre niemandem anvertraut. Ideal wäre es, wenn auch die Täter unsere Schriftzüge lesen und über ihr Verhalten nachdenken würden. Meistens schreiben uns Frauen, aber es gibt natürlich auch Männer, die belästigt werden.
CHRISTL: Ich hatte den Eindruck, dass so viele Personen betroffen sind, die so viel Scham empfinden und das gar nicht ausdrücken können. Ich habe vor dem Release des Songs einen Aufruf gestartet, dass sich Menschen bei mir melden und mir ihre Geschichten erzählen können, weil ich wissen will, was meiner Community passiert ist. Da haben mir vor allem junge Frauen* geschrieben, dass sie das von sich aus niemals jemandem gesagt hätten, aber dass es sich befreiend anfühlt, weil sie endlich merken, dass es nicht okay ist, was ihnen passiert ist.
1000things: Sollte sich die Debatte nicht vor allem auch an jene richten, die andere mit Catcalls belästigen? Ist es möglich, sie ebenso zu erreichen?
CHRISTL: Es geht darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen. Vor allem bei den Menschen, die das machen, was das für die andere Person bedeutet und wie grenzüberschreitend das ist. Wenn man das etablieren kann, würden sich die Menschen vielleicht anders verhalten.
Vary: Ich glaube, dass man ein Zeichen setzt an die, die das aussprechen, aber auch ein Zeichen für die Betroffenen, um zu zeigen: Es ist nicht deine Schuld und du bist nicht allein!
1000things: Für viele gehören solche Erlebnisse leider fast schon zum Alltag, dennoch spricht man erst seit relativ kurzer Zeit mehr darüber. Woran liegt das?
CHRISTL: Ich glaube, dass Catcalling ein Symptom von etwas Grundsätzlichem in unserer Gesellschaft ist. Warum glauben einige Männer, dass sie sich herausnehmen können, so etwas zu machen? Das ist das Kernproblem, das andere sind die Konsequenzen. In letzter Zeit entsteht viel mehr Möglichkeit für kritischen Diskurs. Betroffene nutzen zum Beispiel Social Media als Plattform, um darüber zu reden.
Vary: Catcalling ist ein tabuisiertes Thema. Für viele Menschen ist es eine alltägliche Situation, für die betroffene Person ist es aber ein einschneidendes, traumatisierendes Erlebnis. Deshalb sollte das unbedingt angesprochen werden, damit wir realisieren, dass es ein Problem ist und dass es auch nicht alltäglich sein sollte. Dass man ein Verständnis dafür entwickelt. Es wäre schön, wenn das ohne Gesetze ginge, aber das ist wahrscheinlich utopisch.
1000things: Catcalls of Graz haben ja die Petition gegen Catcalling gestartet. Würde es helfen, wenn Catcalling strafbar wäre?
Vary: Das ist ein schwieriges Thema. Es läuft darauf hinaus, dass man Catcalling abwägt und versucht, einzelne Situationen objektiv zu bewerten. Das könnte dazu führen, dass man bewertet, was Catcalling ist und was nicht. Als außenstehende Person ist das aber nicht immer nachvollziehbar, weil verschiedene Personen mit solchen Situationen unterschiedlich umgehen. Ich weiß auch nicht, wie man Catcalling dokumentieren und beweisen könnte. Es passiert meistens spontan und unvorhergesehen. Ich glaube, es ist noch eine lange Reise, bis man eine gesetzliche Regel festlegen kann, die dann auch wirklich funktioniert. Es wird viel Diskussion geben, auf jeden Fall wird es zum Nachdenken anregen. Die Idee dahinter ist also nichts Schlechtes, im Gegenteil.
1000things: CHRISTL, wirst du dich auch weiter musikalisch mit dem Thema auseinandersetzen?
CHRISTL: Catcalling als Thema wird mich sicher begleiten. Inwiefern sich das musikalisch widerspiegeln wird, wird sich zeigen. Aber Feminismus und ein kritischer Zugang zu Themen ist generell die Art, wie ich Musik schreiben will.
1000things: Danke für das Gespräch!
Wenn ihr mehr zum Thema Catcalling erfahren wollt, solltet ihr euch unbedingt das betreffende Instagram-Highlight von @die_chefredaktion anschauen oder euch unsere Reportage über die Plattform OIDAitssexism durchlesen.
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