Das Tamagotchi-Tagebuch
Ende November 1996 fluteten die ersten Tamagotchis den Markt in Japan. Das Tamagotchi ist damit also bereits 25 Jahre alt. Aus diesem Anlass brachte Hersteller gerade erst eine Jubiläumsausgabe als Smartwatch heraus, die online und mit Touchscreen funktioniert. Wir finden aber, ein Tamagotchi darf nicht smart sein, sondern muss verpixelt aussehen und monoton Piepsen, bis es nervig wird. Also haben wir ein altes Tamagotchi aufgetrieben und ausprobiert, wie lange wir es am Leben halten können.
Dieser Artikel ist noch vor der Corona-Krise entstanden. Alle beschriebenen Situationen beziehen sich auf diesen Zeitraum.
Ich will unbedingt neue Topfpflanzen! Nur leider bin ich nicht unbedingt mit einem grünen Daumen gesegnet und auch nicht mit dem nötigen botanischen Grundverständnis (abgesehen von anhaltendem Verantwortungsbewusstsein). Also gehen solche Experimente bei mir regelmäßig gehörig schief. Ungefähr zur gleichen Zeit wie meine Pflanzenambitionen habe ich dieses Jahr herausgefunden, dass meine liebe Kollegin tatsächlich noch ein Tamagotchi besitzt. Toll, das ist Kindheit, dachte ich mir, und habe beschlossen, Nützliches auf die wahrscheinlich unreifste Weise mit Schrägem zu verbinden und mein Verantwortungsbewusstsein für mögliche florale Mitbewohner erst einmal am Tamagotchi zu schulen. Dieses Experiment hat mich nachhaltig verstört: Tamagotchis sind offenbar perfide Aufmerksamkeitsheischer mit Dauerdiarrhoe. Das hatte ich wohl bei all der 90er-Nostsalgie und Kindheitsverklärung irgendwie ausgeblendet.Für alle, die mir nicht glauben, habe ich das Ganze in einem Tagebuch dokumentiert.
Tag 1
[10:00]
Ich habe das Tamagotchi soeben eingeschaltet und bin ehrlich gestanden etwas enttäuscht, dass es bloß aussieht wie ein kleiner, hüpfender Punkt. Waren das früher nicht mal grob verpixelte Tierchen? Egal, ich nenne es Günter.
[10:01]
Und schon schreit es. Oh Gott, was soll ich tun? Füttern, füttern, füttern. Können Tamagotchis platzen?
[11:07]
Anscheinend reicht Zwangsfütterung nicht aus. Es schreit schon wieder. Ich schreie zurück. Noch finden das meine Kolleginnen und Kollegen lustig.
[13:12]
Ich habe die Bedürfnis-Anzeige des Tamagotchis gefunden. Es will offenbar mit mir spielen. Süß. Leider basiert das einzige Spiel, das es beherrscht, auf einem wahnwitzigen Ausmaß an Willkür: Ich soll raten, in welche Richtung sich der kleine, blinkende Pixelball als nächstes wenden wird, und dann die entsprechende Mini-Taste drücken. Fünf Versuche habe ich. Liege ich bei mindestens drei davon richtig, ist der Quälgeist erst mal ruhig gestellt. Liege ich überwiegend falsch, muss ich noch mal ran.
[14:32]
Günter schreit schon wieder. Diesmal hat er eingekackt. Das erkennt man an dem virtuell dampfenden Haufen auf dem Bildschirm. Ich klicke ihn weg. Langsam spüre ich, wie sich die anfängliche Belustigung meiner Kolleginnen und Kollegen in leichte Genervtheit verwandelt.
[15:18]
Gerade komme ich aus einem Meeting. Meine Kollegin macht mich mit ernster Miene darauf aufmerksam, dass das Tamagotchi gepiepst hat. Ich spiele ein wenig damit und hinterfrage dabei die Art, wie ich Entscheidungen in meinem Leben treffe.
[17:30]
Das Tamagotchi und ich treten den Heimweg an. Jetzt wird mir erst das volle Ausmaß dieses Experiments bewusst: Prompt kreischt es in der rappelvollen U-Bahn aus meiner Tasche. Peinlich. Noch peinlicher, dass mich der hübsche Typ gegenüber genau dabei beobachtet, wie ich das quietschpinke Tamagotchi raushole und mit hochrotem Kopf darauf eintippe. Ich kann jetzt nicht mit dir spielen, verdammt noch mal!
[20:45]
Füttern, spielen, füttern, virtuelle Fäkalien wegmachen – endlich ist es eingeschlafen. Und ich auch.
Tag 2
[8:20]
Das Tamagotchi schläft noch immer. Sollte ich mir Sorgen machen? Schläft es aus Protest?
[9:05]
Ich bin seit fünf Minuten im Büro und prompt wacht es auf. Schreiend. Stille. Ich glaube, meine Kolleginnen hassen mich.
[10:34]
Offenbar schreit es manchmal auch einfach bloß, um mich zu ärgern. Alle Bedürfnisse sind befriedigt. In der Gebrauchsanleitung steht, dass ich das Tamagotchi für aufmüpfiges Verhalten, also Piepsen ohne Grund, bestrafen muss. Das fördert die Disziplin und geht per Knopfdruck. Ich fühle mich überlegen. Langsam gewinne ich wieder die Oberhand.
[11:00]
Meine Kollegin zeigt mir wortlos, wie ich das Tamagotchi auf stumm schalte. Seelige Ruhe!
[16:00]
Ups, das war ein Fehler. Ich habe das Tamagotchi komplett vergessen. Das Positive: Es ist gewachsen. Enttäuschender Weise sieht es jetzt allerdings bloß aus wie ein etwas größerer Punkt. Das Negative: Neben ihm prangen drei Scheißhaufen. Ich mache sie weg und schäme mich.
[18:02]
Gerade kam mein Freund Stephan zu Besuch und fragt mich, wie es dem Tamagotchi geht. Verdammt, schon wieder vergessen. Füttern, füttern, füttern. Spielen, spielen, spielen.
[18:10]
Er macht sich Sorgen um Günter und zwingt mich, ihn wieder auf laut zu schalten.
[20:13]
Stephan entwickelt eine seltsam emotionale Beziehung zu Günter. Er spielt mit ihm. Alle zwei Sekunden piepst Günter vor Verzückung. Ich bin genervt.
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Tag 3
[9:00]
Günter hat wieder die ganze Nacht durchgeschlafen und pennt noch immer. Liegt das an meiner antiautoritären Erziehung?
[9:30]
Ich mache heute Homeoffice, weil ich im Büro nicht ständig auf dem Eierkopf, wie ich ihn inzwischen nenne, herumtippen will. Der Anschein könnte entstehen, ich würde nicht konzentriert arbeiten.
[12:03]
Günter schreit immer mal wieder. Ich füttere ihn ab und zu, manchmal lasse ich ihn auch einfach schreien. Es heißt ja auch bei Babys, man soll nicht auf jedes Quengeln reagieren, oder?
[14:25]
Ich habe es wirklich satt, mit Günter zu spielen. Er besiegt mich ständig und ist ein schlechter Gewinner.
[15:00]
Jetzt reicht’s. Wieder stummgeschaltet. Langsam stumpfe ich ab.
[19:11]
Günter hat offenbar in aller Stille drei gewaltige Haufen gemacht und ist danach eingeschlafen. Jetzt schläft er in seinen eigenen Fäkalien und ich kriege ihn nicht wach. Dieses Spiel hat soeben eine verstörende Wendung genommen.
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Tag 4
[7:00]
Mein schlechtes Gewissen plagt mich. Günter schläft nun schon zwölf Stunden in seinem eigenen Auswurf. Ich suche den Reset-Knopf.
[7:01]
Ich finde den Reset-Knopf nicht.
[9:40]
Endlich – Günter ist wieder wach. Ich beseitige seine Häufchen und spiele so lange mit ihm, bis er selbst keine Lust mehr hat.
[10:10]
Ich schaue alle paar Minuten auf Günters Bedürfnis-Anzeige und bin bestrebt, alle seine Bedürfnisse überzuerfüllen. Das Häufchen-Gate hat mich wachgerüttelt.
[11:07]
Günter schreit, obwohl er zufrieden ist. Wieder muss ich ihn disziplinieren. Diesmal tut mir das allerdings mehr weh als ihm. Irgendwie ist er mir ans Herz gewachsen.
[14:00]
Ich frage mich, wie er sich wohl weiterentwickeln wird. Trennt sich der undefinierbare Punkt irgendwann in Kopf und Rumpf? Wird man vielleicht sogar Gesichtszüge erkennen? Eigenartige Vorfreude überkommt mich.
[20:21]
Es ist schon wieder passiert: Günter schläft in seiner eigenen Scheiße und will partout nicht aufwachen. Das macht mich wütend. Macht er das, um mich zu ärgern?
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Tag 5
[11:35]
Irgendwann am Vormittag ist Günter aufgewacht. Ich habe das bewusst erst mal ignoriert. Er soll ruhig merken, dass er mit der Fäkalien-Nummer nicht weit kommt bei mir.
[11:37]
Ich mache die Häufchen doch weg. Irgendwie ekelt es mich langsam vor Günter. Ich dachte, wir haben das hinter uns.
[14:45]
Beinahe hätte ich Günter vergessen, als ich mich auf den Weg gemacht habe, um mich mit einer Freundin zu treffen.
[14:56]
Ich füttere ihn in der U-Bahn – mittlerweile sind mir die erstaunten Blicke egal. Was gibt’s da so blöd zu glotzen?
[15:17]
Meine Freundin will das Tamagotchi sehen und spielt ein wenig mit ihm. Dann gibt sie es mir schulterzuckend zurück. Ich kann sie verstehen.
[18:12]
Während des Treffens hatte ich Günter auf stumm und bemerke erst zu Hause, dass er Hunger hat. Ich füttere ihn mal wieder. Irgendwie schaffen wir das schon.
[21:30]
Ich bin nicht einmal überrascht: Günter schläft seelenruhig zwischen drei dampfenden Haufen. Das ist anscheinend einfach sein Ding.
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Tag 6
[10:18]
Er wacht nicht auf und schläft noch länger als üblich. Irgendetwas stimmt nicht.
[11:55]
Günter ist tot. Ich hatte nicht einmal die Chance, vorher noch die Kacke wegzufegen. Ich dachte, ich hätte alles richtig gemacht.
[12:30]
Ich beichte Stephan, dass Günter nicht mehr unter uns weilt. „Das muss man doch irgendwie rückgängig machen können, oder?“, will er mir einen Ausweg abringen. Es gibt keinen. Wir können nur mit einem neuen Avatar von vorne anfangen. Aber wir sind noch nicht so weit. Wer weiß, ob wir es je sind.
[12:31]
Ich habe beschlossen, mir vorerst keine Topfpflanzen zu besorgen.
Noch mehr Nostalgie gefällig? Wir erinnern uns an Dinge, die man kennt, wenn man in den 90ern in Österreich aufgewachsen ist. Außerdem verraten wir den 90er- und 00-Kindern unter euch, wie ihr eure Kindheit wieder aufleben lassen könnt.