Der längst vergessene Zoo im Wiener Prater
Das Krokodil bei Fuß, die Schlange um den Hals – was heute klingt wie der Auftritt eines James-Bond-Bösewichts, war im Zoo des Wiener Praters Tagesgeschäft. Die Geschichte seines exotischen Durcheinanders ist nach seiner Schließung 1979 zwar in Vergessenheit geraten, aber wir lassen sie wieder aufleben.
„Das ist er, der Jerry“, sagt Gabriele Nemec. „Schön war er ja wirklich nicht. Aber immerhin ein afrikanischer Nackthund. Wo sieht man den heutzutage noch?“ Von 1946 bis 1979 betrieben ihr Onkel und ihre Tante im Wiener Prater einen Zoo: Wo jetzt das Blumenrad steht, war damals eine Halle voller Tiere. Heute erinnert kaum noch etwas daran. Außer die überdimensionalen Familienalben, die ihr Mann Fredo Nemec bedacht auf dem Küchentisch ausbreitet.
Und der afrikanische Nackthund ist hier bei Weitem nicht das Letzte, womit man beim Foto-Blättern rechnet. Wuchtig prallt der Deckel des ersten Albums auf den Tisch und schon zwinkert einem Frau Nemec’ Onkel, Herr Feigel, entgegen – nicht alleine, nie alleine: Mit Riesenschlange Murli um den Hals steht er auf einem Podest im Prater Parade. So sagt man das. Paradestehen. Seine Lockrufe und die Schlange sollten die Besucherinnen und Besucher in den Tiergarten locken. Oder man sieht ihn lächelnd, Daumen nach oben über Krokodil Fritzi gebeugt, als wäre es nicht fähig, ihm den Daumen im nächsten Moment abzuschnappen. Sowas ist aber auch nie passiert, versichert Frau Nemec.
Eine Familie der besonderen Art(en)
Dass Exoten wie Krokodile oder Schimpansen nicht ab und zu ausrasteten in Käfigen aus einer Zeit, in der von Tier- und Artenschutz noch kaum die Rede sein konnte? Kaum vorstellbar. Aber die Feigels achteten trotz allem behutsam auf ihre exotischen Untermieter: Ein Tierarzt ging bei ihnen ein und aus. Frau Feigel kümmerte sich um jedes Puma-Baby und Krokodil-Kind persönlich.
Wahrscheinlich war es genau das Leben Schulter an Pfote an Huf, das die Big-Band-Ausgabe der Bremer Stadtmusikanten auf sonderbare Weise zusammenschweißte: „Weil die Käfige so beengt waren, waren die Tiere oft bei der Familie dabei. Meine Tante hat mit jedem Tier geredet, alle gekannt. Ich habe alle gekannt. Das war normal“, erinnert sich Frau Nemec. Wenn in einem Käfig mit zwölf Affen doch mal die Rauferei losbrach, spritzte man sie mit dem Gartenschlauch wieder auseinander. Mit leichtem Kopfschütteln, Schulterzucken und einem manchmal über ihre eigenen Erinnerungen verwunderten Lächeln lässt Frau Nemec Revue passieren, was aus heutiger Sicht kaum mehr vorstellbar ist.
„Tiere bitte streicheln!“
Die Wienerinnen und Wiener nannten ihren skurrilen Tiergarten den Streichelzoo oder Taschenzoo von Wien. Denn auch die zahlreichen Besucherinnen und Besucher konnten dort fast alle Tiere betätscheln, sogar die exotischen. Berührungsängste gab es einfach nicht: „Wenn das Krokodil von A nach B musste, hat es einer vorne genommen und einer hinten am Schwanz – und geh ma!“ Frau Nemec grinst.
Mit der Riesenschlange machte man es sich deutlich leichter: Sie war gelegentlicher Co-Star von Tänzerin Marika Röck. Also packte man sie in den Rucksack, brachte sie quer durch Wien ins Theater, und nach der Show wieder retour. Damals ging das.
Wenn der Affe abpascht…
Doch so sehr Friede, Freude, Hundekuchen war schließlich auch nicht alles. Denn die locker-lässige Haltung der Exoten führte zu einigen schlagzeilenfüllenden Ausrissen: „Pansi suchte Zucker im Prater – Schimpanse riss aus Praterzoo aus“, titelt die Headline eines Zeitungsartikels im Familienalbum. Die beiden Nemec’ prusten bei der Erinnerung kurz auf. Passiert ist nie was, ein Mordstratra war’s jedes Mal. „Den Schimpansen haben sie einmal sogar erst am Praterstern gefunden“, erzählt Herr Nemec mit leichter Bewunderung – für den fest entschlossenen Ausreißer oder dafür, was damals alles möglich war. Gefunden wurden sie aber immer: „Wenn irgendwo ein Affe unterwegs war, konnte der nur zum Tiergarten gehören. Man hätte sich gar nicht gefragt, ob der vielleicht jemandem privat gehört. Heute ist das was anderes.“
…oder mit Kot um sich wirft
Die Zoo-Leitung war offenbar alles andere als ein Zuckerwürfel-Schlecken. Schimpansin Susi zum Beispiel war so auf ihre Besitzer fixiert, dass sie aus Eifersucht andere Menschen wegekelte. Auch Frau Nemec, die als junges Mädchen viel Zeit bei Onkel und Tante im Zoo verbrachte: „Wenn ich in der Nähe war, hat sie sich in die Hand geschissen und gewartet, bis ich vorbeikomme. Dann hat sie mich abgeschossen.“
Die enge Beziehung der Feigels zu ihren Tieren beruhte also in vielen Fällen auf Gegenseitigkeit. Das ist natürlich auch eine unglaubliche Verpflichtung. Wenn Frau Nemec von ihrer Tante erzählt, spürt man die große Ehrfurcht, die sie vor ihrer Hingabe an den Zoo hat. Leben auf großem Fuß oder auch nur mal ein Urlaub waren nicht drin. Und als die beiden endlich mal einen Abend frei nahmen und ausgingen, fanden sie bei der Rückkehr ihre Pferde blutüberströmt, niedergestochen von wer weiß wem. „Ich sehe das heute noch vor mir“, sagt Frau Nemec bang. „Das waren fast nur weiße Lipizzaner, dampfend, überall das Blut.“ Glücklicherweise haben die Pferde die Attacke überlebt. Aufgeklärt hat sich das Ganze nie.
Alteingesessene im Wiener Prater
Mit dem Prater ist Familie Nemec bis heute fest verwurzelt. Sie betreibt dort das älteste Karussell: die Prater Marina. Unter Praterfamilien wird das Fahrgeschäft üblicherweise wie in großen Herrscherfamilien von Generation zu Generation weitergegeben.
Aus einer dieser alteingesessenen Dynastien, der Feigel-Familie, stammte Frau Nemec’ Onkel. „Meine Tante hat ihn im Prater kennengelernt, sich verliebt und ihn geheiratet. Und dann hat sie sich ein Leben lang mit den Tieren abgerauft.“ Aber wie kommt man als Mitteleuropäerin in der Mitte des 20. Jahrhunderts überhaupt dazu, Puma-Babys mit dem Fläschchen aufzuziehen?
Wie alles begann
Angefangen hat alles mit einem Kärntner Bauernbuben und seinem Schimpansen. „Da Weberitsch“ hatte nämlich eine Schwäche für Tiere aller Art und hat alles, was kreucht und fleucht, bei sich zu Hause gehortet. Besonders Schimpanse „Pansi“ war offenbar eine Nummer für sich. In den Nemec-Familienchroniken sieht man ihn Hand in Hand mit dem Weberitsch spazieren gehen. Und auch beim Weberitsch daheim war er nicht weniger als ein stärker behaartes Familienmitglied: Er saß mit seinen Menschen am Tisch, aß aus Tellern, putzte sich die Zähne und wusch sich die Hände. Als der Zirkus Rebernigg in Kärnten gastierte, wollte der Betreiber Pansi kaufen. Da es den Affen aber nicht ohne Weberitsch gab, warb der Rebernigg den Weberitsch als Begleiter an und schon ging’s ab nach Wien.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs suchte der Prater nach Ausstellern und wandte sich an den Zirkus, der inzwischen zerbombt und wieder aufgebaut worden war. Weil der Rebernigg wiederum eh nicht wusste, wohin mit den vielen Tieren, schlug er dem Prater einen Tiergarten vor, dem er seine Tiere ausleihen würde. „Also hat mein Onkel mit seinem Vater angefangen, den Tiergarten aufzubauen“, sagt Frau Nemec. Als der alte Rebernigg starb, vererbte er alle Tiere dem Zoo und damit den Feigels. Tierischen Nachschub bekamen sie über die Jahre von anderen Tiergärten und einem ominösen Tierhändler bei Tulln. Frau Nemec war als Kind das eine oder andere Mal dabei und erklärt mit gedämpfter Stimme: „Der hat die Tiere irgendwo auf der Welt gekauft.“ Wieder schüttelt sie lächelnd den Kopf, wieder geraten skurrile Kindheitserinnerungen mit ihrer heutigen Sicht auf die Dinge in Konflikt.
Tierliebe vs. Tierschutz
Irgendwann musste der Tierschutz bei Mini-Käfigen und Durcheinander schließlich aktiv werden. Als sich die Probleme und Beschwerden häuften, beschlossen die Feigels schließlich, alle Tiere zu verkaufen und den Tiergarten dicht zu machen. Auch heute noch kann Frau Nemec die Wehmut in der Stimme nicht verbergen, wenn sie davon erzählt. „Für meinen Onkel und meine Tante war es halt nicht verständlich. Sie liebten ihre Tiere abgöttisch.“
Gerade bei einer derart persönlichen Beziehung zu den Tieren war der Abschied sicher schwer – man kennt das ja vom eigenen Haushasen oder Hamster, den man über die Jahre ins Herz geschlossen hat und der plötzlich „an einen besseren Ort“ kommt. Aber einen ganzen Zoo mit derselben emotionalen Intensität zu führen, mit der andere ihre Meerschweinchen überschütten, ist aus heutiger Sicht nicht unbedingt die ideale Herangehensweise. Auch Frau Nemec räumt immer wieder ein, dass unter den damaligen Haltungsbedingungen ein wachsamer Tierschutz schlichtweg notwendig war: „Es ist schon gut, dass das alles heute anders ist.“
Wenn ihr noch mehr über das vergessene Wien erfahren wollt, sind sicher unsere Wiener Geheimnisse etwas für euch. Außerdem haben wir uns angesehen, was unsere Freundinnen und Freunde auf Instagram in der Isolation so alles treiben.
(c) Beitragsbild | Familie Nemec
(c) Facebook-Bild | Familie Nemec