Die Gräfin am Naschmarkt schließt – ein Nachruf
Die Türen der Lokale sind momentan aufgrund des Lockdowns geschlossen. Manche werden aber auch danach nicht mehr aufgehen, wie jene der Gräfin am Naschmarkt. Ein Nachruf.
Googelt man die Gräfin am Naschmarkt, stößt man ziemlich schnell auf den Eintrag: „Unfassbar grauenhaft“. Autsch. Er verlinkt auf Tripadvisor weiter und damit zu den unzähligen wüsten Bewertungen, die der grauen Eminenz unter den Wiener Tschorcherln zu Kultstatus verholfen haben. Aber nicht etwa wegen des Essens – sondern viel eher trotz des Essens.
Gaumengraus mit Kultstatus
Klingt paradox, ist es aber nicht. Denn das Essen war dort angeblich so wenig gaumenfreundlich, dass es schon wieder gut war. Also nicht kulinarisch, sondern eher als Allround-Erlebnis, das man in Wien laut vorherrschender Meinung wenigstens einmal selbst erlebt haben muss. Die meisten hat es ohnehin nicht zum Fine Dining in die Gräfin verschlagen; Übriggebliebene durchzechter Nächte hoben dort die Gläser mit dem berühmten Einen, den man immer noch getrunken hat, bis in die frühen Morgenstunden. Wir selbst haben uns bis dato auch nur einmal hineingetraut, und auch nicht zum Essen, sondern um beim Lokal-Ausverkauf ein paar Sektgläser zu erstehen. Die berühmte Lasagne, die Severin Corti in seiner legendären Standard-Kritik 2018 als „ein in der Mikrowelle fachgerecht zu Magma verwandelter Ziegel mit großzügiger Garnierung aus Trockenkäse-Sägemehl“ beschrieb, wird leider eines der things to do in Vienna bleiben, die wir nicht mehr auf unsere Liste setzen können.
Ein leises Servus
Denn die Gräfin nimmt ihren Hut und rollt den Bröselteppich ein. Auch wenn in ihrer Auslage noch verheißungsvoll zu lesen ist: „Wegen Umbau geschlossen“, wird sie nach dem Lockdown wohl nicht mehr öffnen, wie die Kronen Zeitung berichtet. Damit verliert Wien zwar nicht unbedingt einen aufgehenden Stern am kulinarischen Himmel, aber definitiv eine Institution, die das Eigentümliche dieser Stadt so gut wie kaum eine andere einfing. Sie war ein Beispiel dafür, dass ausgerechnet die so leidenschaftlich gerne grantelnden Wiener*innen einem selbst aus dem berühmten Haar in der Suppe keinen echten Strick drehen, sondern sich höchstens einen Garn draus spinnen. Wenn einem ausgerechnet ein magmatischer Lasagneziegel zu Kultstatus verhilft, ist eines klar: Man ist in Wien.
Ob das Lokal vielleicht doch noch gerettet werden kann, steht in den Sternen. Bis dahin verneigen wir uns mit standesgemäßem Hofknicks vor der Comtesse du jour, dem Strizzi unter den Beisln, und heben unsere abgestaubten Sektgläser – Prost, Mahlzeit!
Aus gegebenem Anlass rufen wir euch auch noch mal unseren Artikel über die schlechtesten Tripadvisor-Lokale in Erinnerung. Außerdem gibt’s am Naschmarkt noch einiges mehr zu entdecken.
(c) Beitragsbild | Luisa Lutter | 1000things