Ein Spaziergang durchs Atomkraftwerk
1978 hat sich das österreichische Volk gegen das AKW Zwentendorf entschieden. Blöd nur, dass es zu diesem Zeitpunkt schon längst gebaut war. In Betrieb ist es aber zumindest nie gegangen. Stattdessen ist es stummes Mahnmal, Schulungszentrum, Festivalgelände und so vieles mehr. Wir haben uns das Ganze mal genauer angesehen.
Dieser Artikel ist im September 2018 entstanden. Alle geschilderten Situationen beziehen sich auf diesen Zeitraum.
In der Koje vor uns wäre das Sicherheitspersonal gesessen und hätte die Ausweise der Mitarbeiter kontrolliert. Die hätten sich danach splitterfasernackt ausgezogen und wären in vom Betrieb zur Verfügung gestellte Arbeitsbekleidung geschlüpft, ja, sogar Arbeitsunterwäsche. Dass der feine Ripp aus den 70ern knallorange ist, ist eher Sicherheitsmaßnahme als Stylefaktor: Weil man das Orange durch die weißen und gelben Leinenoveralls gut durchsieht, konnte man so sicherstellen, dass die Arbeiter nicht unabsichtlich ihre private Unterwäsche anbehalten haben. Sonst hätten sie eventuelle radioaktive Strahlung mit nachhause genommen.
Stilles Mahnmal
Wir befinden uns im Atomkraftwerk Zwentendorf. Dem einzigen Kernkraftwerk weltweit, das zwar gebaut, aber dank einer Volksabstimmung nie in Betrieb gehen sollte. 1972 erfolgte erst einmal der Spatenstich, bevor sich einige Jahre später langsam Unmut in der Bevölkerung breit machte. Eines der wesentlichen Argumente der Atomgegner war die Tatsache, dass man schlichtweg nicht wusste, wo man die abgebrannten, radioaktiven Brennelemente endlagern sollte. Und selbst die heute existierenden Endlager stellen ein massives Sicherheitsrisiko für künftige Generationen dar. Die Radioaktivität mancher Atomsorten wird nur sehr langsam abgebaut, sogar so langsam, dass es bis heute kein dauerhaftes Endlager für hochradioaktive Abfälle gibt. Das Material würde irgendwann nicht mehr standhalten.
Also Tacheles: Wir produzieren hochgiftigen Müll, der noch Generationen nach uns massiven Schaden anrichten könnte, und wissen nicht, wohin damit. In den 70ern gab es sogar Vorschläge, ihn doch einfach ins Weltall zu schleudern: Einerseits würde das erklären, wieso die grünen Männchen eigentlich so ungesund grün sind. Andererseits könnte ein fehlerhafter Raketenstart eine Katastrophe biblischen Ausmaßes auslösen. Und hey, wir fänden es auch nicht besonders prickelnd, wenn die kleinen grünen, orangen oder gepunkteten Männchen ihren Giftmüll von der anderen Seite der Milchstraße herüberschupfen.
Starren in den atomaren Abgrund
Mit dem Argument, dass das AKW ohne Endlager nicht in Betrieb gehen könne, hatten die Atomgegner vollkommen recht, findet auch der EVN-Pressesprecher Stefan Zach. Er führt uns durch das Kraftwerk. Schon als er uns im Eingangsbereich erklärt, wie sich die Belegschaft hier umgezogen hätte, überkommt uns eine Mischung aus Staunen und Gänsehaut. Denn wir befinden uns in einer industriellen Zeitkapsel: Schutzanzüge, die aus heutiger Sicht kaum mehr Vertrauen erwecken, hängen herum. Die Duschen und die Koje der Sicherheitsleute geben ein kühles, irgendwie tristes Bild ab. Als würde alles hier vergeblich warten, so lange schon warten, dass nicht mehr klar ist, worauf eigentlich. Es hat schon etwas wahnsinnig Groteskes, so ein Zweckbau, der seinen Zweck verfehlt hat.
Zach schleust uns in den Aufzug. Stockwerke gibt’s hier keine, nur Meterangaben. Warum? „Das ist in allen Kraftwerken so“, zuckt er mit den Schultern. Wir fahren also auf 39 Meter und starren plötzlich in einem hellen, riesigen Raum von oben in den Reaktor hinein. „Da drinnen hätte die Kernspaltung stattgefunden“, sagt Zach. Wir schweigen kurz und starren in einen futuristisch und antiquiert zugleich wirkenden Abgrund. Nur unseren Atem hören wir, von der Außenwelt durch 1,2 Meter Stahlbeton abgeschottet. Irgendwie hört es sich an, als würde das Gebäude dröhnen. Seltsam.
Mysteriöse Mikrowelle
Stefan Zach ist mittlerweile der Mensch, der das AKW wohl am besten kennt. Und selbst er weiß nicht genau, wofür manche Räume gedacht waren. Aber bei 1.050 Räumen ist das auch nur zu verständlich. Während er uns seinen zweitliebsten davon zeigen will, kommen wir etwa an einen Durchgang vorbei, in dem eine Mikrowelle steht. Einfach so. Wer sie hierhin gestellt hat und wie lange sie schon hier ist, weiß keiner. Auch der ursprüngliche Zweck dieses Raums ist nicht ganz klar. Dass man hier das Licht nicht einschalten kann, verleiht dem Ganzen einen Hauch von Horrorfilm-Szenario.
Apropos: Die wurden hier auch schon gedreht, erzählt Zach. Klingt plausibel angesichts der herkunfts- und herrenlosen Mikrowelle in einem dunklen Gang, an dessen Ende kaltes Licht leuchtet. Hier sieht man zugleich, wie kompromisslos sich die Zeit ihren Tribut von ungenutzten Gebäuden zurückholt.
An der Stelle von 2800 Kühlwasser
Bevor wir den laut Zach zweitschönsten Raum des AKW sehen, bringt er uns aber noch in den Kühlungsraum, in dem 2.800 Kubikmeter Deionat, also eine Art destilliertes Wasser, den Reaktor umgeben hätten. Er ist beeindruckend, ja, wirkt fast wie das Innere einer fliegenden Untertasse aus einem 70er-Jahre-Film: Auf einem Gitter können wir den ins Leere des Raumes ragenden unteren Teil des Reaktors umrunden. Dunkel ist es, und alles ist massiv. Das bedrohliche Dröhnen, das wir uns über dem Reaktor schon eingebildet haben, wird immer stärker. „Hier wäre man nur mit Taucheranzug und Schlauchboot über die Bullaugenöffnung hineingekommen.“ Zach deutet auf das Bullauge einige Meter über uns. Wieder verschlägt es uns den Atem. Wann steht man immerhin schon mal sauerstoffatmend in einem Raum, der sonst nur mit Tauchausrüstung beschwimmbar ist?
„Da oben hätte die Kernspaltung stattgefunden“
Jetzt aber lieber weiter. Vorfreudig marschiert Zach uns voran zum zweitschönsten Raum des Gebäudes: Auf null Metern Gebäudehöhe schauen wir von unten direkt auf den Reaktor. „Da oben hätte die Kernspaltung stattgefunden.“ Zach deutet auf eine Steuerantriebsstelle, die man von hier aus in den Reaktor geschoben und der man von oben die Brennelemente aufgesetzt hätte. Aus ihr ragen viele grüne Pflöcke wie Zahnstocher auf einer Käseplatte. Die Stellmotoren, wie uns Zach erklärt. Mit insgesamt 123 von ihnen hätte man den Reaktor mechanisch rauf- und runterfahren können.
Doch dazu sollte es nie kommen: 1978 konnten sich die Atomgegner gegen Regierung, Gewerkschaften, Industrie und Handelskammer durchsetzen. Bundeskanzler Kreisky ließ das Volk 1978 über die Inbetriebnahme des AKW abstimmen und das Volk stimmte mit 50,47 prozentiger Mehrheit dagegen. Zurecht: Nur acht Jahre nach dieser Entscheidung kam es zur Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, 2011 zum gleichen Desaster in Fukushima. Zwentendorf aber steht seit jeher still. Fast zehn Jahre nach dem Shutdown nahm man dafür nur einige 100 Meter weiter ein neues Kraftwerk in Betrieb: 1987 begann das Kraftwerk Dürnrohr, Energie aus Kohle zu gewinnen und nutzte dafür die Stromleitungen des AKW.
AKW Rooftop
Mittlerweile hat uns Zach aufs Dach des AKW gelotst. Im Kies stehen wir seinem 110 Meter hohen Schornstein gegenüber, der nur durch einen schmalen Gitterpfad erreichbar ist. Vor uns breitet sich eine idyllische, friedliche Landschaft aus. Die Spätsommersonne taucht die abgewirtschafteten Felder in warmes Licht. Dennoch scheint hier alles eigenartig zu flimmern. Als wäre alles hier nur knapp der Katastrophe entkommen. Wir müssen unweigerlich erneut an die bereits geschehenen Super-GAUs denken, an die Pressebilder, die Ratlosigkeit. Und wie das alles so gar nicht zusammengeht mit der absoluten Ruhe, die das AKW Zwentendorf umgibt.
„Da drüben steht das Ersatzkraftwerk für Zwentendorf, das Kohle-Gas-Kraftwerk Dürnrohr“, reißt uns Zach aus unseren düsteren Gedanken. „Links daneben ist die Müllverbrennungsanlage der EVN.“ Dort werden jedes Jahr gut 500.000 Tonnen Müll verbrannt, woraus wiederum Strom für 170.000 Haushalte generiert wird. Was wahrscheinlich die Wenigsten wissen: 35 Jahre nach der Entscheidung gegen seine Inbetriebnahme fing das AKW Zwentendorf dennoch an, Strom zu produzieren. Natürlich nicht mit gespaltenen Atomen, sondern mit Sonnenstrahlen. Über 2.000 Solarpaneele strecken sich über das Gebiet um das Kraftwerk. Skurril, dass ausgerechnet ein brachliegendes Atomkraftwerk auf nachhaltige Energiegewinnung setzt. Skurril und zugleich so schön, dass es fast schon kitschig ist.
Party im Atomkraftwerk
Das AKW ist aber nicht nur Mahnmal, sondern auch Schauplatz von Führungen und Horrorfilm-Drehs: Einmal im Jahr wird das Areal um das Kraftwerk zum Festivalgelände. Bis vor zwei Jahren brachte hier noch das Tomorrow-Festival mit einem Line-up von Alternative bis Indie-Rock die Solarpaneele zum Beben. Voriges Jahr hat das Shutdown-Festival die schräge Venue übernommen. Hämmernder Hardstyle passt auch einfach besser in zweckentfremdete Industriegebäude. Vielleicht war das Dröhnen, das wir vielleicht oder vielleicht auch nicht im Kraftwerk gespürt haben, ja der sanfte Nachhall von „Bioweapon“, „Chain Reaction“ und Co.? Stefan Zach ist damit jedenfalls sehr zufrieden: „Das ist meine Musik“, sagt er. Hätten wir von dem seriösen Pressesprecher irgendwie nicht erwartet.
Lieblingsraum und Technikkonserve
Zach bringt uns schließlich zu unserer letzten Station im AKW und gleichzeitig in den für ihn schönsten Raum: in die Alte Schaltwarte. Von hier aus hätte man alle Vorgänge im Kraftwerk auf Monitoren überwacht. Alles hier ist konservierte Technik von vor über 40 Jahren: die alten, gigantischen Telefone mit geringeltem Kabel, die Schaltzentrale, die leicht vergilbten, matt-grauen Würfelmonitore. Irgendwie kommt man sich hier vor wie in einem 70er-Jahre Astronautenfilm im Kontrollzentrum der NASA.
Es ist kaum vorstellbar, dass das Kraftwerk, das heute stark an das Setting eines Retro-Streifens erinnert, noch bis vor wenigen Jahren hätte aktiv sein können. „Spätestens 2011 nach Fukushima hätte man das Kraftwerk ohnehin aus politischen Gründen stillgelegt“, meint Zach. „Diese Kraftwerke haben in Österreich und Deutschland eine genehmigte Laufzeit von 30 Jahren netto. Wenn man die Stillstandzeiten dazurechnet, wären AKW wie dieses auf 32 bis 35 Lebensjahre gekommen.“ Egal ob politisch oder zeitbedingt: So oder so wäre Zwentendorf heute also bereits gut zehn Jahre nicht mehr in Betrieb. Ein Kraftwerk, das vom selben Typ wie Zwentendorf ist, läuft aber noch: Gundremmingen. Die anderen vier typengleichen AKW Deutschlands wurden nach Fukushima und mit dem Atomausstieg Deutschlands stillgelegt.
Jedes AKW geht mal aus dem Leim
„In Zwentendorf würden wir heute wahrscheinlich gerade den Rückbau vorbereiten“, vermutet Zach. Da der geordnete Abriss eines Kraftwerks eine ziemlich heikle Sache ist, kommen Mitarbeiter von anderen Atomkraftwerken zu Schulungen nach Zwentendorf, um sich einmal ohne höchste Sicherheitsvorkehrungen in Ruhe anzusehen, wo die Schweißnähte verlaufen und wie sie das Kraftwerk am besten in seine Einzelteile zerlegen könnten. Tatsächlich umgesetzt wird hier nur sehr wenig, sonst wäre Zwentendorf schon längst in Stahlbetonschutt zerbröselt.
Aber auch konventionelle Sicherheitstrainings veranstaltet die EVN im AKW Zwentendorf. „Die Mitarbeiter aus Gundremmingen sind zurzeit relativ oft hier“, wundert sich Zach. „Die anderen kommen schon her, um Rückbautrainings zu absolvieren.“ Viele Besucherinnen und Besucher kommen auch einfach zu den gratis Freitagsnachmittagsführungen, um einen Blick in das personifizierte österreichische Dilemma zu werfen.
Kalte Duschen für Verstrahlte
Unsere Tour ist zu Ende und wir stehen wieder im leergefegten, seinem Zweck enthobenen Eingangsbereich. Auch die niemals ihren Dienst angetretenen Mitarbeiter des AKW wären nach ihrer Schicht wieder hier herausgekommen. Sie hätten ihre Schutzkleidung in gelbe Tonnen gesteckt, die sechs Meter tief im Keller ausgekocht werden sollten. Weil die Strahlung über die Haut aufgenommen wird, hätten sie ums Eck in die Duschkabinen gehen und sich eiskalt abwaschen müssen. Warmes Wasser öffnet die Poren und hätte die Strahlung in tiefere Hautschichten vordringen lassen. Danach wären sie gemessen worden. Sie hätten erst nachhause gehen dürfen, wenn die Messmonitore keine Strahlung mehr angezeigt hätten.
Ihr wollt noch mehr Reportagen? Wie wär’s zum Beispiel mit einem Ausflug ins Salzburger Marionettentheater? Oder vielleicht doch lieber ein Kaffeeklatsch mit einer lebenden Statue?
(c) Beitragsbild | Viktoria Klimpfinger | 1000things