„Für mich ist alles eine Leinwand“: Unterwegs mit einer Wiener Taggerin
Fällt der Begriff Graffiti, denken viele an große, künstlerisch gestaltete Wandmalereien, also Murals, die oftmals von der Stadt oder Hauseigentümer*innen in Auftrag gegeben werden. Murals sind weitgehend beliebt und die Großstädte sind stolz auf ihre riesigen Kunstwerke, die oft auch viele Tourist*innen anlocken. Weitaus weniger populär sind jedoch die sogenannten Tags. Sie gelten oft als hässliche, geschmacklose Schmierereien, die Hausbesitzer*innen und Reinigungskräfte viel Geld und Nerven kosten. Kein Wunder, denn die mit Spraydose oder Lackmarker angefertigten Schriftzüge der Writer*innen werden im Gegensatz zu Murals illegal angebracht und verursachen hohe Reinigungskosten, auf die in den meisten Fällen die Eigentümer*innen sitzen bleiben. Vor allem in Großstädten wie Wien sieht man Tags soweit das Auge reicht: Egal ob Hauswände, Müllkübel, Parkbänke, Laternenmasten, LKW-Planen, überall wird draufgeschrieben und -gesprüht. Doch warum macht man das, und worum geht es eigentlich in der Graffiti-Szene? Ich treffe mich dafür mit einer Taggerin aus Wien und spreche mit ihr über ein für viele kontroverses Hobby.
Lena* und ich treffen uns im Esterházypark und wollen von dort einen Spaziergang durch den 7. Bezirk machen, in dem sie auch wohnt. Auf den ersten Blick hätte ich nicht vermutet, dass sie eine Person ist, die nachts durch die Straßen läuft und die Stadt besprüht. Ihr Kleidungsstil ist leger und sie wirkt sehr sympathisch und lächelt viel, aber ich merke auch, dass sie etwas nervös ist. Als ich sie genauer betrachte, fallen mir die pinkten und grünen Farbspritzer auf ihrer blauen HUGO BOSS Jacke auf. Auch auf ihren gelben Sneakers und den Fingernägeln ihrer rechten Hand sind welche zu sehen. „Die Farbe geht nicht raus“, sagt Lena, als sie meine Blicke bemerkt. Es ist sonnig, aber kalt, also holen wir uns noch einen Tee to go und gehen danach in die Zollergasse, eine Straße reichlich gefüllt mit Tags.
Writer, Tags und Throw-Ups
Ich bitte sie, mich ein wenig durch den Graffiti-Jargon zu führen, und mir zu erklären, was genau man unter Bezeichnungen wie Tag und Throw-Up versteht. Anfangs erzählt sie mir, dass Graffiti seinen Ursprung in der New Yorker Hip-Hop Szene der 1960er-Jahre hat und es deswegen üblich ist, die englischen Bezeichnungen zu verwenden. Ein Tag sei ein Schriftzug, der das Pseudonym des*der Writers*in beinhalte, und von diesem*dieser kalligrafisch ausgearbeitet wurde. Ein geübtes Auge sehe sofort, welcher Tag wirklich sitzt und welcher nicht, denn man verbringt durchaus viel Zeit damit, einen Schriftzug für den gewählten Namen zu designen und bis man ihn dann wirklich drauf hat, dauert das schon mal ein Weilchen.
Das wichtigste am Tag sei nämlich der Flow, das heißt, wie flüssig, gekonnt und selbstbewusst die Linien gezogen wurden. „Wenn der*die Writer*in während des Setzens, so nennen wir das Anbringen eines Tags, an irgendeinem Punkt unsicher war, weil zum Beispiel ein Passant um die Ecke kam, dann kann man im Schriftzug die genaue Stelle erkennen, an der er*sie unsicher gewesen ist“, erklärt mir Lena. Unterwegs zeigt sie mir einen gesprühten Tag von ihr, der im oberen Bauch des Bs eine Delle hat. „Siehst du, das meine ich. Als ich das gemacht habe, ist gerade jemand aus dem Lokal da gekommen. Ich musste kurz absetzen, aber ich hätte es auch ganz sein lassen können, der Flow war sowieso schon verloren.“
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Die Codes der Tags
Wir biegen in die Mondscheingasse ein, dort zeigt sie auf zwei übereinander geschriebene Throw-Ups und beschreibt mir, was man unter diesem Begriff versteht: Throw-Ups sind keine Buchstabenlinien sondern Buchstabenflächen. Bei einem Throw-Up schraffiert man im jeweiligen Style den Namen und umrandet die Buchstaben. Sie erklärt mir auch, dass das Überschreiben eines anderen Tags oder Throw-Ups, auch crossen genannt, ein Ausdruck von Disrespect ist. Ebenso findet man neben manchen Tags die Bezeichnung „Toy“, was bedeutet, dass jemand den jeweiligen Schriftzug schlecht findet und den*die Writer*in damit quasi als Anfänger*in bezeichnet, der*die nichts drauf hat.
Ich finde es faszinierend, wie die Writer*innen über ihre Tags miteinander kommunizieren. Man merkt schnell, dass das Erlangen von Anerkennung eine durchaus hohe Bedeutung hat. Es scheint, als wäre das Motto: Je riskanter, desto besser. Denn durch die Tatsache, dass es oft illegal ist, bekommt man in der Szene großen Respekt für das Sprühen an Orten, die schwer zu erreichen oder gut sichtbar sind. Anders als in anderen Kunstrichtungen jedoch bezieht sich die Anerkennung rein auf die Werke, da der*die Writer*in ja im Normalfall unerkannt bleiben will.
Geschmackssache
Während wir die Kirchengasse entlang laufen, unterhalten wir uns über die verschiedenen Tag-Styles, an denen wir vorbeikommen. Lena fragt mich, ob ich Puber kenne und was ich von seinen Tags halte. Ich antworte ihr ehrlich und sage, dass ich nichts besonders Schwieriges oder Schönes an seinem Tag-Design erkenne. Lena lacht, sie hat vermutlich schon mit dieser Bewertung gerechnet. „Pubers Tag ist im Anti-Style geschrieben. Wie dieses P.T. zum Beispiel“, sie zeigt auf einen in Schwarz geschriebenen, verwackelten Tag, der wirkt als hätte ihn eine Rechtshänder*in mit links geschrieben. „Das ist einfach eine Stilrichtung, die vermutlich als Gegenstück zum Oldschool-Style entstanden ist. Ich finde es echt schade, dass so viele das Schöne und Interessante an Tags nicht sehen können. Die Stadt ist eine lebende Galerie!“
Ich merke, wie sehr Lena liebt, was sie macht, und wie wertvoll die Graffitikunst für sie ist. „Für mich ist es, als wäre die ganze Stadt eine Leinwand, und wir bemalen sie wie Kinder die Wände ihres Elternhauses“, sagt sie, während sie beide Hände aufs Herz legt und lächelt. Das klingt natürlich schön, ist aber angesichts der meist illegalen Spots nicht unproblematisch. Klammert man diese Ebene für einen Moment aus und beobachtet das Geschriebene genauer, kann man vieles erkennen, herauslesen und ableiten. Geht man bestimmte Straßen regelmäßig entlang, sieht man beispielsweise, welche*r Writer*in gerade aktiv ist, wer das Design verändert hat, welche Schriftzüge aufwendig und profihaft gestaltet sind und welche Botschaften gerade aktuell sind. Denn die Stadt wird nicht nur mit Namen beschriftet, sondern auch mit Gedichten, politischen Forderungen, Witzen und, ganz besonders beliebt unter Sprüher*innen, mit „1312“ oder „ACAB“ („All Cops Are Bastards“).
Die ganze Bandbreite der (illegalen) Szene, von Anfänger*in bis Profi, bedient sich am öffentlichen Raum und hinterlässt ansehnliche Werke genauso wie Kritzeleien, die man auf Papier geschrieben vermutlich wegschmeißen würde. Doch wenn man beispielsweise ausgefeilte Murals oder den bemalten Donaukanal bewundert, muss man auch daran denken, dass hinter jedem dieser Werke ein*e Graffitikünstler*in steht, deren Karriere womöglich ebenfalls mit einem illegalen Tag an einer Hausmauer angefangen hat. Die Entfernung solcher Tags kann allerdings schnell mal 100 Euro pro Quadratmeter kosten, abhängig von der Art der Fassade oder des Untergrunds.
Taggen und Schwarzfahren – Äpfel und Birnen
Als Lena und ich die Burggasse hinunterspazieren, sehen wir einen Mann, der mit diversen Putzmitteln und einem Eimer weißer Farbe vor einer Hauswand kniet und einen dort angebrachten Tag entfernt. Ich frage Lena, wie sie die Tatsache rechtfertigt, dass sie sich fremden Eigentums bedient und gleichzeitig sehr hohe Strafen riskiert. Sie antwortet mit einer Gegenfrage: „Würdest du von dir und den Menschen, die du kennst behaupten, immer legal unterwegs zu sein?“ Ich antworte mit „Nein“, und wir sprechen länger über weit verbreitetes illegales Verhalten, dass oft entweder bagatellisiert oder gar verschwiegen wird. Lena fängt mit Beispielen aus Jugendjahren an, wie die Schreibtische in der Schule beschreiben und einritzen, Diebstahl von Gegenständen, für die das Taschengeld nicht reicht, oder Alkohol- und Zigarettenkonsum vor dem legalen Alter. Die Liste an Beispielen, die wir finden, ist lang und manches trifft auch noch auf Erwachsene zu, genauso wie zu schnelles Fahren, Fahrerflucht nach Beschädigungen, illegaler Download von geistigem Eigentum, Schwarzfahren, ausgeliehenes Geld nicht zurückgeben oder Drogenkonsum.
Sie sagt, dass sie damit aufzeigen will, dass wir fast alle, wenn nicht alle, im Laufe unseres Lebens für Schäden verantwortlich sind, für die andere aufkommen müssen. Damit wolle sie nicht verharmlosen, aber meint, „es ist irgendwo lächerlich, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und ihn der Sachbeschädigung zu bezichtigen, der höchstwahrscheinlich selbst auf die eine oder andere Art und Weise Schaden verursacht hat.“ Sie deutet auf einen von ihr besprühten Müllcontainer, an dem wir vorbeilaufen, und argumentiert: „Wir sind alle irgendwo kriminell, ein Plastiksackerl aus dem Autofenster zu schmeißen, ist nicht unbedingt weniger kriminell und schädlich als dieser besprühte Müllcontainer, der mir wenigstens Freude bereitet hat, als ich ihn angemalt habe.“ Lena bequemt sich also mit dem Argument, dass illegale Graffitikunst okay ist, weil sich „fast alle, wenn nicht alle“ ebenso in irgendeiner Form nicht ans Gesetz halten. Dass es da jedoch Abstufungen gibt zwischen Sachbeschädigung und Schwarzfahren, klammert sie dabei aus.
Egoismus, jein danke
Als wir ein halbfertiges Throw-Up sehen, lacht Lena: „Schau, der wurde wahrscheinlich gebustet, also erwischt, aber vielleicht konnte er noch weglaufen.“ Ich erzähle Lena, dass ich bei meiner Recherche herausgefunden habe, dass in Österreich jährlich Tausende Anzeigen wegen Sachbeschädigung durch Graffiti eingehen. Doch Lena macht sich kaum Sorgen, ausfindig gemacht zu werden, sie sei sehr vorsichtig und achte darauf, dass so wenige Leute wie möglich darüber Bescheid wissen. „An die mögliche Strafe denke ich irgendwie nicht, im Vordergrund steht das, was mich animiert, nachts rauszugehen und meinen Namen an alles Mögliche zu klatschen“, so Lena.
Ich merke, dass sie sich nicht sehr wohl dabei fühlt, über ihre Motive zu sprechen. Dennoch erklärt sie mir, es sei in erster Linie der Kick, den sie dabei fühle und, dass „ich durch Graffiti einer Seite von mir Raum geben kann, die ganz egoistisch mit Farbe ihre Stadt markiert und sich darüber freut, gesehen zu werden.“ Lena regt sich darüber auf, dass viele Leute egoistische Motive verbergen, fast verleugnen, obwohl jede*r Egoismus in sich trage, das sei vielleicht nicht ideal, aber normal. „Dafür stelle ich mich sonst im Leben meistens an zweite Stelle“, sagt Lena lächelnd.
Ich lächle auch und obwohl ich nicht mit allem, was Lena gesagt hat, übereinstimme, freue ich mich über einen tieferen Einblick in eine spannende Szene, die sonst lieber im Dunklen bleibt. In der man sich gegenseitig pusht, aber gleichzeitig im Wettbewerb steht, die stumm, aber doch so laut und bunt ist – und oft am Rande des Legalen. Bevor ich mich vor der Katholischen Kirche Mariahilf von Lena verabschiede, fragt sie mich noch: „Das bleibt eh alles anonym, gö?“
Ihr habt Lust auf Street Art bekommen? Wir zeigen euch ein paar Street-Art-Wanderwege in Wien. Außerdem haben wir noch ein paar ausgefallene Spazierrouten für euch.
(c) Beitragsbild | Viktoria Klimpfinger | 1000things