„Gegen das Vergessen“: Wie die Attacke auf das Holocaust-Mahnmal die Zivilcourage fordert

In der Nacht von Sonntag auf Montag wurden zum wiederholten Mal die Bilder der Fotoschau "Gegen das Vergessen" von Luigi Toscano attackiert. Nun steht die Zivilbevölkerung auf und bewacht die Porträts bis zum Ende der Ausstellung. Ein Stimmungsbild.
Viktoria Klimpfinger Aktualisiert am 28.05.2019
Gegen das Vergessen Attacke
(c) 1000things Redaktion / Viktoria Klimpfinger

Die Fetzen der zerschlitzten Leinwände wehen im Wind. Wie offene Wunden klaffen die gewaltsam angerichteten Risse in den Porträts der Fotoausstellung „Gegen das Vergessen“ von Luigi Toscano am Wiener Ring. Offene Wunden, die auch nach über 70 Jahren immer noch nicht heilen können. Die Ausstellung zeigt Porträts und Kurzlebensläufe von Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors. Manche blicken mahnend, andere zuversichtlich. Einige von ihnen wurden in der Nacht auf Montag mit Messern aufgeschlitzt. Ein Angriff auf ein Mahnmal der Geschichte, das seit der Attacke nur umso lauter schreit.

Gegen das Vergessen Attacke
Rita Rubinstein ist 1936 in Rumänien geboren: „Ich habe meine Kindheit, Vater, Großeltern und 26 Familienmitglieder verloren. Ich bin dankbar, dass ich überlebte und hoffe, dass es nie wieder passieren wird. Meine Rache an Hitler ist, dass ich acht Enkel von drei Töchern habe. Nie wieder!“ (c) 1000things Redaktion / Viktoria Klimpfinger

Gemeinsame Mahnwache

Schon am Montagnachmittag sitzen Alice Uhl und Agnesa Isufi von der Young Caritas auf Klappstühlen zwischen zwei beschädigten Bildern, im Rücken den Heldenplatz. Ein paar Dutzend Meter weiter haben sich einige Mitglieder der Theatergruppe Nesterval niedergelassen. Schwarze Schilder mit weißer Schrift verraten, worum es geht: „Gegen das Vergessen. Wir stehen Wache!“ Zunächst unabhängig voneinander, haben beide Gruppen Mahnwachen organisiert, und organisieren nun zusammen mit der muslimischen und der katholischen Jugend den zivilgesellschaftlichen Schutz der Ausstellung.

„Genau bei dieser Thematik und genau in Zeiten wie diesen geht es darum, zu sagen: Wir sind gemeinsam hier“, sagt Alice Uhl. Nicht nur, um ein Zeichen gegen Gewalt und Wiederbetätigung zu setzen, sondern auch, um auf die Bilder aufzupassen. Und zwar im Idealfall durchgehend bis zum Ende der Ausstellung am 31. Mai. Manche haben sich bereits in Schichten organisiert, andere sind Hals über Kopf zum Ring gefahren und gerade noch dabei, den weiteren Verlauf zu regeln. Der Wind wird stärker. Es beginnt zu regnen.

Gegen das Vergessen Angriff
Die Mitglieder von Nesterval werden sich alle zwei Stunden abwechseln. „Bis Freitag werden wir das auf jeden Fall schaffen“, sagt Martin Finnland (links im Bild). (c) 1000things Redaktion / Viktoria Klimpfinger

Wir gehen hier nicht weg

Ungerührt spannen die ersten Mahnwachenden ihre Schirme auf. So schnell bringt sie hier offensichtlich nichts weg. Am Telefon hat jemand von Nesterval gerade ein Zelt zugesagt bekommen. Aber obwohl die Autos am Ring vorbeirauschen und eifrig organisiert wird, herrscht auf dem Fußgängerstreifen, an dem die Bilder aufgereiht sind, eine ungewöhnliche Stille. Betroffenheit eint nicht nur die Wachenden, sondern auch die Vorübergehenden, Stehenbleibenden, Kopfschüttelnden. Immer wieder nicken sie der Mahnwache mit festem Blick zu, rufen im Vorbeigehen „Danke!“, legen Blumen vor den zerschnittenen Bildern ab oder bleiben stehen, um ihrem Ärger und Frust kurz verbal Luft zu machen. Caritas-Direktor Michael Landau ist ebenfalls vor Ort, aber zu betroffen, um ein Statement abzugeben. Langsam geht er alleine von Bild zu Bild. Und auch der Künstler Luigi Toscano ist inzwischen extra aus Chicago angereist.

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Letztlich ist es ein politisches Stimmungsbild, das sich hier am Wiener Ring zeigt. Ein Bild, das zeigt, dass man genug hat von Vorfällen dieser Art. „Es ist ein europaweites, wenn nicht sogar internationales Phänomen, dass rechtspopulistische Parteien an Stimmen gewinnen und Rassismus und Diskriminierung salonfähig geworden sind“, sagt Nesrin El-Isa von der Muslimischen Jugend. Dass gerade in Österreich eine Attacke auf Bilder von NS-Überlebenden verübt wird, spricht traurige Bände. Denn die Ausstellung war bereits in mehreren europäischen und US-amerikanischen Städten zu Gast und in keiner davon wurde sie beschädigt. In Österreich, direkt vor der Kulisse des Heldenplatzes als Ort des „Anschlusses“ Österreichs an das nationalsozialistische Reich, jedoch gleich mehrmals. Denn die jüngste Attacke ist bereits der dritte Angriff auf die Bilder. Vor einiger Zeit hat sie etwa jemand mit Hakenkreuzen verunstaltet.

Gegen das Vergessen Attacke
Nesrin El-Isa von der muslimischen Jugend tritt für Zivilcourage jenseits ethnischer oder gesellschaftlicher Grenzen ein. „Es geht nicht darum, dass ich nur aufstehe, wenn meine Gruppe oder Minderheit betroffen ist. Sondern dass ich auch für andere aufstehe und meine Hilfe anbiete. Dass wir füreinander da sind.“ (c) 1000things Redaktion / Viktoria Klimpfinger

Zivilcourage gibt Hoffnung

Aber so tragisch das alles ist, so bemerkenswert ist auch die Welle an Zivilcourage, die sich aufbäumt. „Wir müssen zeigen, dass wir zusammenstehen“, sagt Nesrin El-Isa. „Wenn einer angegriffen wird, ist das ein Angriff auf uns alle.“ Die Mahnwachen finden immer lauteren Zuspruch und Widerhall in der Öffentlichkeit – sie haben mittlerweile die erste Nacht hinter sich gebracht. Andere wiederum haben inzwischen begonnen, die Bilder zu reparieren.

Gegen das Vergessen Attacke
Projektkoordinator von „Gegen das Vergessen“ Mirco Malik begann gleich am Montag mit einigen Helferinnen und Helfern, die Risse zu nähen. (c) 1000things Redaktion / Viktoria Klimpfinger

Gleich am Montag hat Projektkoordinator Mirco Malik damit begonnen, die Bilder mit rotem Faden zu flicken: „Es geht jetzt erst mal darum, ein Zeichen zu setzen, dass man sich nicht beugt.“ Denn ob man die Risse nun klebt, flickt, so lässt oder die Bilder überhaupt ganz neu aufstellt – jede Form der Reaktion auf eine solche Tat ist ein gewisses Statement. Mittlerweile haben sich dem Flicken der Risse etliche Freiwillige angeschlossen. Aus den offenen Wunden wurden Narben. Doch heilen werden sie so schnell nicht. Auch sie sind nun ein sichtbares Mahnmal gegen das Vergessen, das dem „Jetzt erst recht“-Slogan des rechten Lagers mit fester Stimme entgegensetzt: „Nie wieder!“

Gegen das Vergessen
Dieses Bild wurde vor einiger Zeit mit einem Hakenkreuz beschmiert. Mirco Malik entfernte die Nazi-Symbole auf allen Bildern. (c) 1000things Redaktion / Viktoria Klimpfinger

Genauere Infos über die Ausstellung erfahrt ihr in unserem To-Do-Profil über „Gegen das Vergessen“. Was in Wien sonst noch los ist, erfahrt ihr regelmäßig in unserem WhatsApp-Newsletter.

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