„Gegen das Vergessen“: Wie die Attacke auf das Holocaust-Mahnmal die Zivilcourage fordert
Die Fetzen der zerschlitzten Leinwände wehen im Wind. Wie offene Wunden klaffen die gewaltsam angerichteten Risse in den Porträts der Fotoausstellung „Gegen das Vergessen“ von Luigi Toscano am Wiener Ring. Offene Wunden, die auch nach über 70 Jahren immer noch nicht heilen können. Die Ausstellung zeigt Porträts und Kurzlebensläufe von Überlebenden des nationalsozialistischen Terrors. Manche blicken mahnend, andere zuversichtlich. Einige von ihnen wurden in der Nacht auf Montag mit Messern aufgeschlitzt. Ein Angriff auf ein Mahnmal der Geschichte, das seit der Attacke nur umso lauter schreit.
Gemeinsame Mahnwache
Schon am Montagnachmittag sitzen Alice Uhl und Agnesa Isufi von der Young Caritas auf Klappstühlen zwischen zwei beschädigten Bildern, im Rücken den Heldenplatz. Ein paar Dutzend Meter weiter haben sich einige Mitglieder der Theatergruppe Nesterval niedergelassen. Schwarze Schilder mit weißer Schrift verraten, worum es geht: „Gegen das Vergessen. Wir stehen Wache!“ Zunächst unabhängig voneinander, haben beide Gruppen Mahnwachen organisiert, und organisieren nun zusammen mit der muslimischen und der katholischen Jugend den zivilgesellschaftlichen Schutz der Ausstellung.
„Genau bei dieser Thematik und genau in Zeiten wie diesen geht es darum, zu sagen: Wir sind gemeinsam hier“, sagt Alice Uhl. Nicht nur, um ein Zeichen gegen Gewalt und Wiederbetätigung zu setzen, sondern auch, um auf die Bilder aufzupassen. Und zwar im Idealfall durchgehend bis zum Ende der Ausstellung am 31. Mai. Manche haben sich bereits in Schichten organisiert, andere sind Hals über Kopf zum Ring gefahren und gerade noch dabei, den weiteren Verlauf zu regeln. Der Wind wird stärker. Es beginnt zu regnen.
Wir gehen hier nicht weg
Ungerührt spannen die ersten Mahnwachenden ihre Schirme auf. So schnell bringt sie hier offensichtlich nichts weg. Am Telefon hat jemand von Nesterval gerade ein Zelt zugesagt bekommen. Aber obwohl die Autos am Ring vorbeirauschen und eifrig organisiert wird, herrscht auf dem Fußgängerstreifen, an dem die Bilder aufgereiht sind, eine ungewöhnliche Stille. Betroffenheit eint nicht nur die Wachenden, sondern auch die Vorübergehenden, Stehenbleibenden, Kopfschüttelnden. Immer wieder nicken sie der Mahnwache mit festem Blick zu, rufen im Vorbeigehen „Danke!“, legen Blumen vor den zerschnittenen Bildern ab oder bleiben stehen, um ihrem Ärger und Frust kurz verbal Luft zu machen. Caritas-Direktor Michael Landau ist ebenfalls vor Ort, aber zu betroffen, um ein Statement abzugeben. Langsam geht er alleine von Bild zu Bild. Und auch der Künstler Luigi Toscano ist inzwischen extra aus Chicago angereist.
Letztlich ist es ein politisches Stimmungsbild, das sich hier am Wiener Ring zeigt. Ein Bild, das zeigt, dass man genug hat von Vorfällen dieser Art. „Es ist ein europaweites, wenn nicht sogar internationales Phänomen, dass rechtspopulistische Parteien an Stimmen gewinnen und Rassismus und Diskriminierung salonfähig geworden sind“, sagt Nesrin El-Isa von der Muslimischen Jugend. Dass gerade in Österreich eine Attacke auf Bilder von NS-Überlebenden verübt wird, spricht traurige Bände. Denn die Ausstellung war bereits in mehreren europäischen und US-amerikanischen Städten zu Gast und in keiner davon wurde sie beschädigt. In Österreich, direkt vor der Kulisse des Heldenplatzes als Ort des „Anschlusses“ Österreichs an das nationalsozialistische Reich, jedoch gleich mehrmals. Denn die jüngste Attacke ist bereits der dritte Angriff auf die Bilder. Vor einiger Zeit hat sie etwa jemand mit Hakenkreuzen verunstaltet.
Zivilcourage gibt Hoffnung
Aber so tragisch das alles ist, so bemerkenswert ist auch die Welle an Zivilcourage, die sich aufbäumt. „Wir müssen zeigen, dass wir zusammenstehen“, sagt Nesrin El-Isa. „Wenn einer angegriffen wird, ist das ein Angriff auf uns alle.“ Die Mahnwachen finden immer lauteren Zuspruch und Widerhall in der Öffentlichkeit – sie haben mittlerweile die erste Nacht hinter sich gebracht. Andere wiederum haben inzwischen begonnen, die Bilder zu reparieren.
Gleich am Montag hat Projektkoordinator Mirco Malik damit begonnen, die Bilder mit rotem Faden zu flicken: „Es geht jetzt erst mal darum, ein Zeichen zu setzen, dass man sich nicht beugt.“ Denn ob man die Risse nun klebt, flickt, so lässt oder die Bilder überhaupt ganz neu aufstellt – jede Form der Reaktion auf eine solche Tat ist ein gewisses Statement. Mittlerweile haben sich dem Flicken der Risse etliche Freiwillige angeschlossen. Aus den offenen Wunden wurden Narben. Doch heilen werden sie so schnell nicht. Auch sie sind nun ein sichtbares Mahnmal gegen das Vergessen, das dem „Jetzt erst recht“-Slogan des rechten Lagers mit fester Stimme entgegensetzt: „Nie wieder!“
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