Gerard van Swieten: Vampirjäger der Habsburger
Der Titel ist natürlich irreführend. Denn echte Vampire hat der kaiserliche Leibarzt nie gejagt. Die gibt es ja auch gar nicht, das wusste keiner besser als Gerard van Swieten. Warum die Habsburger ausgerechnet ihn auf den grassierenden Vampirmythos angesetzt haben, lest ihr hier.
Ein Dorf im Osten Ungarns, anno 1732
Wie ein unheilvoller Schleier hat sich dichter Nebel über die kleine Ortschaft östlich des Flusses Theiß gelegt. Am Friedhof, der sich in unmittelbarer Nähe der bewohnten Häuser befindet, sind erregte Stimmen zu vernehmen. Zwischen den einfachen Gräbern hat sich die gesamte Einwohnerschaft versammelt. Manche schreien, einige weinen, entsetzt ist jede*r. Alle starren sie auf einen Sarg, der erst vor wenigen Minuten geöffnet wurde. Was sie darin sehen, ist keine gewöhnliche Leiche. Obgleich stark aufgedunsen, wirkt der Körper frisch, fast lebendig. Die Haut ist rosafarben und obwohl es niemand zu erwähnen wagt, sehen doch alle, dass aus dem Mund des Exhumierten Blut rinnt. Zuerst murmeln es nur einige, dann ruft es jemand hysterisch aus: „Ein Vampir!“
Schon seit Jahren suchen angeblich die Untoten die Dörfer in der Umgebung heim, saugen das Blut von Tier und Mensch und schaffen so neue Vampire. In der Nähe der Gräber der Blutsauger geschehen unheimliche Dinge. Die Bewohner*innen berichten von Tiererscheinungen, von herumirrenden Kälbern, Hunden und Schweinen. Sogar ein fliegender Kalbskopf soll gesichtet worden sein. Und sind in letzter Zeit nicht ungewöhnlich viele Menschen krank geworden, ja sogar verstorben?
Die Leute leben in permanenter Angst, viele sind längst panisch geworden. Um sich zu schützen, essen manche Dorfbewohner*innen die Erde der Vampirgräber oder reiben sich mit dem Blut der (Un)toten ein. Andere schwören auf ein brutales Prozedere, graben die vermeintlichen Vampire aus und rammen ihnen einen spitzen Pfahl durch die Brust. Danach schlagen sie ihnen den Kopf ab, verbrennen sämtliche Überreste und verscharren die Asche in einer Grube. In der allgemeinen Hysterie werden ganze Friedhöfe umgegraben und immer wieder werden dabei kaum verweste Körper gefunden. An ein baldiges Ende der Heimsuchungen will jedenfalls kaum jemand glauben.
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Wien, anno 1745
Die Residenzstadt der Habsburger blüht wie selten zuvor: Erst vor wenigen Jahren ist die barocke Karlskirche fertiggebaut worden, Zeichen des Sieges über die Osmanen und die Pest. Im Osten der Stadt lässt die Regentin Maria Theresia ein prächtiges Schloss bei Schönbrunn errichten und eine Parkanlage anlegen, die die Wiener*innen in Staunen versetzt. Der Hof feiert prächtige Feste und zieht Komponisten, Künstler und Gelehrte an. Einer von ihnen ist der brillante Gerard van Swieten. Geboren 1700 im niederländischen Leiden, wächst van Swieten in einer Welt der Gelehrsamkeit auf. Zu seinen Zeitgenossen zählen keine Geringeren als Leibniz, Newton oder Rousseau. Die Aufklärung ist auf dem Vormarsch und mit den Mitteln der reinen Vernunft werden alte Gesetze, bestehende Gesellschaftsordnungen und sogar der christliche Glaube einer genauen Prüfung unterzogen.
Vernünftig ist auch van Swieten: Zunächst in Löwen und später in Leiden studiert er Medizin, Pharmazie und Chemie. Seine Doktorarbeit behandelt ausgerechnet die Struktur und Funktion von Arterien, was sich später noch als nützlich erweisen wird. Nach dem Studium arbeitet er als Arzt, verfasst wissenschaftliche Werke und beginnt eine Korrespondenz mit einer der großen Frauen seiner Zeit: Maria Theresia.Seinen Weg nach Wien ebnen schließlich zwei Todesfälle: Jener des kaiserlichen Leibarztes Jean Baptiste Bassand und jener der an Kindbettfieber erkrankten Schwester Maria Theresias, Maria Anna. Der zu Hilfe gerufene van Swieten kann zwar das Leben der geliebten Schwester nicht mehr retten, doch hinterlässt er bei Maria Theresia einen bleibenden Eindruck – 1745 wird er zum neuen kaiserlichen Leibarzt ernannt.
Van Swietens tatsächliches Betätigungsfeld geht allerdings weit über die eigentliche Berufsbezeichnung hinaus. Zu seinem Herzensprojekt wird die Wiener Hofbibliothek, die er grundlegend modernisiert. Buchhändler werden ausgeschickt, um in Venedig, Paris und Leiden die neuesten Bestseller der Wissenschaftsliteratur zu erwerben. Im neu eröffneten Lesesaal werden diese Werke erstmals einer größeren Gruppe an Gelehrten zugänglich gemacht. Im Gesundheitswesen zeigt sich van Swieten als humaner Reformer. Er reorganisiert die heruntergekommenen Spitäler, macht Chirurgie zu einem eigenen Lehrfach und unterrichtet seine Studenten direkt am Krankenbett. Die grassierende Syphilis und die Blattern bekämpft er effizient. Darüber hinaus begründet der hochgebildete Mann Hebammenschulen und eine eigene Ausbildungsstätte für Tierärzte, lässt Findelhäuser bauen und eröffnet in Wien eine anatomische Lehranstalt, ein chemisches Labor sowie einen botanischen Garten. Alles scheint prima zu laufen, bis ihn Maria Theresia eines Tages auf eine hochbrisante Mission in ein unwirtliches Gebiet schickt.
Mähren, anno 1755
Die Straßen, so es denn welche gibt, sind holprig. Wann immer es möglich ist, versucht die illustre Reisegesellschaft die Wege durch die dunklen Wälder zu meiden. Wölfen will man nicht begegnen, Wegelagerern schon gar nicht. Bestimmt leidet van Swieten unter den Strapazen der Reise, doch an einen Abbruch ist nicht zu denken. Denn der Vorzeigegelehrte steht einer eigens von Maria Theresia eingesetzten Kommission vor, die nur ein Ziel hat: Sie soll klären, was es mit den Vampirgeschichten auf sich hat, die aus entlegenen Gebieten des Habsburgerreichs bis nach Wien vorgedrungen sind. Neu sind die unheimlichen Erzählungen über die blutsaugenden Untoten nicht. Entsprechende Berichte aus Dörfern Südosteuropas hatte es bereits in den 1720er-Jahren gegeben. Doch Mitte der 1750er nehmen die Schauergeschichten über gepfählte Leichen überhand, weshalb der Vampirismus zu einer Chefangelegenheit des Wiener Hofs wird.
Van Swietens Reiseziel ist eine Region, die die meisten Wiener*innen nur vom Hörensagen kennen, die wohl wenige je mit eigenen Augen gesehen haben. Eine Region, die zwar geografisch nah ist, doch kulturell weit entfernt zu sein scheint: Mähren, im heutigen Tschechien. Hier soll der kaiserliche Leibarzt der allgegenwertigen Vampirhysterie auf den Grund gehen und herausfinden, ob die Erzählungen einen wahren Kern haben oder blankem Aberglauben geschuldet sind. Als Mann der Aufklärung beginnt van Swieten seine Studien nicht unvoreingenommen; seinen Standpunkt notiert er in aller Deutlichkeit: „Wenn die Menschen außerordentliche Wirkungen wahrgenommen haben, deren Ursache sie nicht erkannten, so leiteten sie dieselben von einer höheren Macht her, als diejenige ist, welche die Menschen besitzen. Die Geschichte zeigt uns in allen Jahrhunderten deutliche Spuren davon.“
Brauchen die Menschen in Mähren Vampire also nur, um Dinge zu erklären, die sie nicht verstehen? Je tiefer van Swieten in die Materie eindringt, desto mehr erhärtet sich dieser Eindruck. In kleinen, abgelegenen Dörfern trifft er auf Bewohner*innen, deren Unwissenheit ihn schockiert und die ihm der Barbarei näher zu sein scheinen als der Zivilisation. Als Wissenschaftler ist ihm vor allem die Untersuchung der kaum verwesten Leichen ein Anliegen, für deren ungewöhnlichen Zustand er rasch natürliche Erklärungen findet. Rund 20 Jahre vor der Entdeckung des Sauerstoffs stellt van Swieten fest, dass der Verwesungsprozess aufgrund eines besonders starken Luftabschlusses massiv verlangsamt wurde. Durch den Mangel an Sauerstoff kam es außerdem zu Gärvorgängen, die das Aufblähen der Körper bedingten und in manchen Fällen sogar zum Austritt von Körperflüssigkeiten wie Blut aus den Gesichtsöffnungen führten.
Er resümiert, „dass der ganze Lärm von nichts anderem herkomme, als von einer eitlen Furcht, von einer abergläubischen Leichtgläubigkeit, von einer dunkeln und bewegten Phantasie, Einfalt und Unwissenheit bei jenem Volke.“ 1768 publiziert er einen nüchternen, mit „Vampyrismus“ betitelten Abschlussbericht, der mit den abergläubischen Abwehrmaßnahmen der Dorfbewohner*innen scharf ins Gericht geht. Maria Theresia reagiert daraufhin und verbietet per Gesetz das Pfählen, Köpfen oder Verbrennen exhumierter Leichen in allen Herrschaftsgebieten der Habsburger. Die grausamen Vampirprozesse kommen damit allmählich zu einem Ende. Was bleibt, ist der Mythos.
Wien, anno 2021
Stolz und wissend steht er da. In der linken Hand hält er ein Buch, mit der rechten gestikuliert er, geradeso, als möchte er seinen Worten damit Nachdruck verleihen. Der lange Mantel verdeckt seine Körperfülle, auf dem Haupt ruht eine gelockte Perücke. Van Swieten hat die Zeit überdauert – seine Statue steht heute auf dem Maria-Theresien-Denkmal zwischen Natur- und Kunsthistorischem Museum. Auch eine Gasse im Neunten ist nach ihm benannt, ebenso ein Mahagonigewächs, die Swietenia. Die Van-Swieten-Kaserne beherbergt – wie könnte es auch anders sein – das militärmedizinische Zentrum. Und begraben liegt der große Kämpfer gegen den Aberglauben, der 1772 in Wien Hietzing das Zeitliche segnete, in der Augustinerkirche. Das größte Denkmal hat ihm aber wohl Bram Stoker, der irische Autor des Klassikers Dracula, gesetzt. Denn als Inspirationsquelle für die kultige Romanfigur des Vampirjägers Abraham van Helsing diente dem Schriftsteller der Held unserer Geschichte: Gerard van Swieten.
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(c) Facebook Beitragsbild | Ankhesenamun | Unsplash