Gräber putzen am Jüdischen Friedhof Währing
Eigentlich ist der Jüdische Friedhof Währing verschlossen vor den Augen der Öffentlichkeit. Aber einmal im Monat öffnen sich seine Pforten für die Freiwilligen, die ihn pflegen und so seine verfallenen Gräber vor dem endgültigen Verfall bewahren. Zu Allerheiligen 2019 waren wir mit dabei. Auch dieses Jahr könnt ihr am 1. November 2021 wieder selbst mithelfen.
Die schwache Herbstsonne* tunkt den Jüdischen Friedhof Währing in nostalgische Stimmung. Eigentlich brüllt der verfallene Friedhof so laut wie sonst wohl kaum ein Ort in Wien mit rasselnder Lunge: „Vergänglichkeit!“ Traurig ist die Stimmung an diesem Allerheiligen-Freitag aber nicht. Dafür ist der Friedhof vielleicht auch schon zu lange geschlossen, die wildwuchernde Natur über den Grabsteinen zu idyllisch. Und die Blätter der Bäume, die noch übrig sind, sterben einen goldenen Tod. Dabei sind es gerade diese Bäume, die die Sanierungsarbeiten hier so gefährlich machen, sagt Jennifer Kickert von den Grünen und vom Verein „Rettet den Jüdischen Friedhof Währing“: „Die meisten Bäume hier sind Eschen und die sind wie im Wienerwald von einem Pilz befallen. Sie könnten jederzeit auch ohne Wind umfallen.“
Überwuchert und verfallen
Schlagartig befällt einen dann in all der Verwesungsidylle doch ein mulmiges Gefühl. Die über 70 Jahre wild vor sich hin gewachsenen Bäume, die hier im hinteren Teil des Friedhofs aufschießen, wirken plötzlich, als würden sie nur gnadenhalber nicht ins Straucheln geraten. Ein kleiner Teil hier hinten erinnert daran, wie der Friedhof noch vor ein paar Jahren ausgesehen hat, als die Grünen 2006 die Freiwilligen-Initiative ins Leben riefen. Was heute nur mehr auf ein paar Quadratmetern aussieht wie ein verwahrloster Einsiedlergarten, zog sich damals über die gesamte Fläche des zwei Hektar großen Friedhofs: Gestrüpp, Bäume, umgestürzte Grabsteine, tiefe Schächte im Boden. Kein Wunder, immerhin wurde das Gräberfeld bereits in den 1880ern, nach etwa 100 Jahren, geschlossen und in der NS-Zeit teilweise zerstört: Man brach etwa Gruften auf und exhumierte Verstorbene für dubiose „rassekundliche“ Untersuchungen. Seitdem ist der Friedhof mehr oder weniger sich selbst überlassen – einst die Hauptbegräbnisstätte der Israelischen Kulturgemeinde in Wien (IKG), heute wohl eine ihrer größten Baustellen.
Einmal im Monat helfen seit Jahren Freiwillige dabei, den Friedhof zu sanieren. Für die Öffentlichkeit ist er nur an diesen Tagen und im Rahmen von Führungen zugänglich. Am Eingang steht Susanne Schober-Bendixen vom Friedhofsrettungsverein hinter einem Heurigentisch – an ihr kommt erst mal niemand vorbei. Denn bevor man den Friedhof betritt, muss man einen Haftungsausschluss unterzeichnen. Sicherheitshalber. Unfall ist hier noch keiner passiert. Meine Unterschrift verschafft mir also Zugang, auch zu Arbeitshandschuhen und Werkzeugen wie Gartenscheren und Rechen. „Wo soll ich anfangen?“ frage ich in die Runde. Ich werde zu dem Teil des Friedhofs begleitet, wo keine einsturzgefährdeten Eschen stehen, und sehe schon ein paar andere Freiwillige in gebückter Haltung um die Gräber mäandern. Also mache ich einfach mal mit. Ich suche mir ein Plätzchen, das noch halbwegs verwildert aussieht, und lege los. Aber womit eigentlich? Die einzige Anweisung, die ich bekommen habe: „Alles über ein paar Zentimeter kannst du abschneiden.“ Ich rupfe, schneide und knipse also einfach mal drauf los.
Bürokratische Hürden
2001 verpflichtete sich Österreich im „Washingtoner Abkommen“ zur Restaurierung und Erhaltung bekannter und unbekannter jüdischer Friedhöfe. Erst 2010 wurde ein Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe des Landes eingerichtet, auf die über einen Zeitraum von 20 Jahren hinweg jährlich ein Betrag von einer Million Euro zur Erhaltung und Sanierung aufgeteilt wird. Das klingt erst mal nach viel, ist aber an zwei Bedingungen geknüpft: Die Gemeinde des jeweiligen Friedhofs muss für 20 Jahre die Pflege übernehmen und die Eigentümer der jüdischen Friedhöfe müssen Mittel in gleicher Höhe einbringen. Weil die IKG aber über 60 Friedhöfe im ganzen Land zuständig ist, wäre das ein immenser finanzieller Aufwand.
Helfen soll dabei im 18. Bezirk der 2017 gegründete Verein „Rettet den Jüdischen Friedhof Währing“, der dieses Jahr das erste Mal alleiniger Veranstalter der monatlichen freiwilligen Aufräumaktion war. Er sucht private Spenden, die er als Leistung der IKG übergeben kann – und auch der Arbeitsaufwand der Freiwilligen zählt da dazu. Das würde etwa 30.000 bis 35.000 Euro entsprechen, hat Kickert für das vergangene Jahr vage ausgerechnet. Dass der Verein und nicht mehr die Grünen die Aktionen ausrichten, hat aber auch weniger bürokratische Gründe: „Es geht um eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung“, sagt Kickert. Die Zielgruppe ist also deutlich größer, wenn man das Projekt nicht mit einer einzigen Partei verknüpft. Das leuchtet ein. Tatsächlich ist die Gruppe jener, die hier helfen, ziemlich bunt gemischt: Eltern mit ihren Pre-Teens, Neugierige, die eigentlich nur den sonst geschlossenen Friedhof mal von innen sehen wollten und dann gleich mit angepackt haben, und jene, die fast jeden Monat kommen, um zu helfen, weil sie das einfach brauchen, das Draußensein, wie mir eine Frau mit ernster Miene und knappen Sätzen im Vorbeigehen erzählt.
Unkraut jäten alleine oder im Team
Nach einigem konfusen Herumgejäte habe ich bei den anderen ein wenig abgeschaut. Die fokussieren sich offenbar größtenteils auf ein Grab und wandern, wenn dieses halbwegs gereinigt ist, zum nächsten weiter. Ich bleibe also auch erst einmal bei Charlotte Steinschneider und ihrem umgestürzten, aber erstaunlich gut erhaltenen Granit-Grabstein. „Granitsteine halten ewig“, das hat mir Jennifer Kickert vorhin erklärt, erinnere ich mich und frage mich dann, ob sich Charlotte das hätte vorstellen können, dass ihr Grabstein fast zwei Jahrhunderte und zwei Weltkriege überdauert und sie post mortem zur Protagonistin in einem Artikel eines Online-Magazins macht. Wahrscheinlich nicht. So jäte und kopfphilosophiere ich also mitten auf dem Friedhof vor mich hin und bemerke nicht einmal, wie die anderen Freiwilligen nach und nach zur Friedhofsmauer ziehen, um dort weiterzumachen.
Dort arbeitet auch eine Gruppe gut gelaunter 16-Jähriger gemeinsam an einem dicht mit Efeu überwucherten Grab. Damit hätte ich hier nicht gerechnet – nicht unbedingt die übliche Gruppenaktivität, die mir und meinen Freundinnen und Freunden in diesem Alter in den Sinn gekommen wäre, besonders an einem Feiertag. Und ganz besonders einen Tag nach Halloween. „Eigentlich wären wir eh mehr“, erzählt mir eine der Jugendlichen. „Aber die anderen haben es dann doch nicht aus dem Bett geschafft.“ Sagen wir es halt mal so. Feiern waren sie also am Vortag schon, weshalb sich 12.30 Uhr für manche von ihnen auch anfühlt wie 5.30 Uhr morgens. Hier sind sie aber trotzdem. Zwei von ihnen haben schon öfter mit ihren Eltern geholfen und wollten nun auch die anderen mal mitnehmen. Und die kommen definitiv wieder, sagen sie. Allein schon, weil der Friedhof so wahnsinnig schön ist.
Wenn harte Arbeit Früchte trägt
Und immer stärker nehmen die Bemühungen der Freiwilligen Fahrt auf. Während sie hier in den ersten Jahren aufgrund der begrenzten Mittel kaum mehr als Sisyphus-Arbeit verrichten konnten, lichtet sich langsam das Chaos, weicht nach und nach das Unkraut. Heuer legte man mit den ersten archäologischen Arbeiten los. Die Grasnarbe wurde bis auf ein historisches Niveau abgetragen, die Steine statisch erfasst und, falls sie umsturzgefährdet waren, abgenommen, um ihnen einen stabileren Sockel zu verpassen. Das Organisationsteam ist spürbar erleichtert, dass die langjährige Arbeit endlich sichtbare Früchte trägt.
Dabei kann man auf einem Friedhof natürlich nicht einfach so fuhrwerken, wie es einem gefällt. Denn jüdische Friedhöfe sind angelegt für die Ewigkeit, die Totenruhe ist unzerstörbar. Dem Judentum zufolge erheben sich die Toten zum Jüngsten Gericht aus ihren Gräbern und gehen nach Jerusalem. Da gibt es natürlich teils strenge Regeln, wie etwa, dass man keine Erde vom Friedhof entfernen darf. Deshalb wurden die archäologischen Arbeiten auch von einem Rabbiner begleitet, erzählt Susanne Schober-Bendixen beim Eingang.
Die Urururenkelin und ein Stück Geschichte
Sie ist an diesem Tag ziemlich sicher die einzige hier, die beim Sanieren des Friedhofs hilft und zugleich ihre verstorbenen Verwandten besucht. Weil sie ihre Familiengeschichte recherchiert hat, ist sie auf die Todesanzeigen ihrer Urururgroßeltern gestoßen, die am Jüdischen Friedhof Währing begraben liegen. Während sie uns zum Grab ihrer Vorfahren führt, wird sie fast nostalgisch: „Als ich die Gräber das erste Mal gesehen habe, sind für mich die Leute lebendig geworden“, sagt sie. „Ich weiß, das klingt vielleicht sonderbar.“
Aber so sonderbar klingt das gar nicht. Immerhin hat man gerade an diesem Allerheiligen-Tag tatsächlich das Gefühl, der Friedhof ist irgendwie lebendig. Alle zwei Meter trifft man auf geschäftig wirkende Freiwillige, die ihr gejätetes und zusammengerächtes Unterholz in Schubkarren zum Sammelplatz schaffen, wo es von der MA48 abtransportiert wird. Langsam aber sicher füllt sich auch mein Laubsack mit allerhand Kleinzeug: mit hartnäckigem Unkraut, das ich unter einem umgestürzten Grabstein hervorgezogen habe, Ästen, Blättern und was man eben noch so auf dem Boden eines Friedhofs findet, wie etwas, das aussieht wie ein ausgestanztes Modell eines Spielzeugautos. So lange so nah war ich bisher nicht einmal den Gräbern meiner Familie. Seltsam fühlt sich das aber erst an, wenn man im Nachhinein darüber nachdenkt. Währenddessen ist es Arbeiten an der frischen Luft und an einem historischen Ort. Und ein Stück weit wird seine Geschichte dabei tatsächlich lebendig.
Am 14. November und 12. Dezember 2021 finden jeweils um 11 und um 13 Uhr Führungen über den Friedhof statt. Der letzte Termin für die Freiwilligenarbeit dieses Jahr ist der 1. November 2021. Die nächsten Termine folgen im März 2022.
*Dieser Artikel ist im November 2019 entstanden. Alle geschilderten Situationen und angeführten Zitate beziehen sich auf diesen Zeitraum.
Was ihr im November sonst noch so unternehmen könnt, verraten wir euch in unserer Programmvorschau.