Integrationshaus: Was bedeutet Integration?
Seit Mitte der 90er setzt sich das Integrationshaus in Wien für Geflüchtete ein mit besonderem Fokus auf unbegleiteten Minderjährigen und Freiwilligenarbeit. Wir durften bei einem Freiwilligenclub dabei sein und das Haus näher kennenlernen.
Der Raum, den Sonja Scherzer und ein Zivildiener gerade vorbereiten, erinnert an ein Klassenzimmer. Die typischen Stapelstühle und Bankfachtische, die sie gerade erst zu einem Kreis geschoben haben, und Fenster, die hinaus auf die dunkle Engerthstraße blicken, die am späten Dienstagnachmittag immer geschäftiger wird. Um 18 Uhr wird der Raum zum Atelier VIA. Eines der vielen Projekte vom Integrationshaus Wien.
Initialzündung Lichtermeer
Das alles hier geht zurück auf das legendäre Lichtermeer im Jahr 1993, bei dem an die 300.000 Menschen den Heldenplatz fluteten. Sie bezogen Stellung gegen das “Ausländer”-Volksbegehren “Österreich zuerst”, das von der damaligen FPÖ unter Jörg Haider forciert wurde. Anfang der 90er suchten viele Menschen in Österreich Schutz vor den Jugoslawienkriegen – das Volksbegehren sollte den schwelenden Fremdenhass zum Politikum machen. Bis heute bleibt das Lichtermeer von 93 die größte Demonstration der Zweiten Republik. Seine Schlagkraft hallt nach, auch in den Räumen in der Engerthstraße. Immerhin war es die Initialzündung für die Gruppe Menschenrechtsaktivist*innen rund um Willi Resetarits, das Integrationshaus ins Leben zu rufen. Bis das Bürogebäude in der Engerthstraße 163 umgebaut und bezugsfertig war, dauerte es noch zwei weitere Jahre – 1995 sind die ersten Bewohner*innen eingezogen.
Schutz der Vulnerablen
“Aber bitte einzeln verpackte!”, ruft Sonja Scherzer, die im Integrationshaus für die Koordination der freiwilligen Mitarbeiter*innen verantwortlich ist, dem Zivildiener nach, der gerade zur Tür raus ist, um noch schnell Naschereien für die Besucher*innen des Freiwilligenateliers zu besorgen. Nicht die einzige und auch nicht die offensichtlichste Corona-Maßnahme: Die Sesseln sind durch Trennwände flankiert, auf einem Stehtisch am Eingang liegen Antigen-Tests bereit und wir und alle, der hier aus- und eingehen, tragen FFP2-Maske. “Bei uns im Haus leben Personen mit erhöhtem Betreuungsbedarf”, erklärt Scherzer. “Ungefähr ein Drittel davon sind besonders vulnerabel, aus unterschiedlichen Gründen.” Damit sind Alleinerzieherinnen genauso gemeint wie Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung oder anderen, chronischen Krankheiten.
Leben im Bürogebäude
Im Haus erinnert nach wie vor einiges an seine Vergangenheit als Bürogebäude. Der Lastenaufzug fährt noch, die massiven Wände der hohen Gänge zieren mittlerweile Pinnwände, auf denen selbstgebastelte Plakate, Infos und das Kinderprogramm für die ganze Woche ausgehängt sind. Im ersten und zweiten Stock befinden sich die Wohneinheiten, die Platz für insgesamt 110 Bewohner*innen bieten. Die Stockwerke teilen sich jeweils zwei Sanitäranlagen. Ursprünglich ging man davon aus, dass ein Asylverfahren in Österreich ein halbes Jahr dauert und das Integrationshaus daher eher notwendiger Zwischenschritt als dauerhafter Wohnort sein soll. Dass das nicht der Realität entspricht, ist längst klar. Manche Asylverfahren ziehen sich über Jahre hinweg.
Zurzeit ist das Integrationshaus voll ausgelastet. Daneben betreut das Team auch WGs in ganz Wien, in denen ehemalige unbegleitete minderjährige Geflüchtete unterkommen, wenn sie 18 werden. Das Projekt nennt sich “First Flat” und ist mittlerweile auch für Geflüchtete aus der Ukraine offen.
Von Wohnen bis Orientierung
Ursprünglich ging es im Integrationshaus vorrangig darum, Wohnraum und Betreuung zu bieten, besonders gerichtet an schwer traumatisierte Asylsuchende. In den 90ern gab es noch kein Grundversorgungssystem, viele Geflüchtete standen also ohne Unterstützung auf der Straße. Schnell habe sich aber herauskristallisiert, dass es noch viel mehr braucht für eine umfassende Versorgung, wie sozialarbeiterische und psychologische Unterstützung, Sprachkurse, Kinderbetreuung. So haben sich nach und nach aus den Notwendigkeiten immer mehr Projekte und Angebote entwickelt. Eines der ersten war etwa das Projekt Caravan im Jahr 2001, das nach wie vor im vierten Stock angesiedelt ist und sich der adäquaten, altersgerechten Betreuung der unbegleiteten Minderjährigen widmet, die von Anfang an zentrales Thema des Integrationshauses war. Sie leben in rund um die Uhr betreuten WGs zusammen, die Altersspanne reicht von Kleinkindern bis Jugendlichen.
Inzwischen liegt der zweite Schwerpunkt auf einem spezifischen Angebot für Frauen, wie zum Beispiel Deutschkurse mit Kinderbetreuung oder Kurse für die Arbeitsmarktintegration von Frauen. Allem übergeordnet ist nach wie vor das Thema der möglichst umfassenden Betreuung und Begleitung selbst: Seit 2004, also seit es das System der Grundversorgung in Österreich gibt, betreibt das Integrationshaus auch eine psychosoziale Beratungsstelle für alle Menschen, die sich im Asylverfahren befinden, nicht nur für die Bewohner*innen.
Interkulturelles Geben und Nehmen
Im dritten Stock des Hauses befinden sich die Räumlichkeiten der Administration, aber auch Bildungs- und Kursräume. In einem stehen einige Computermonitore auf Tischgruppen. Hier bekommen etwa Jugendliche mit Flucht- oder anderer Migrationsgeschichte, die vom AMS vermittelt werden, ein umfassendes Bewerbungstraining. An der Korkpinnwand gegenüber kriecht eine Schnecke durchs Gras – “langsam, aber sicher” –, flattern Tauben auf und symbolisieren “Freiheit”, schmiegt sich ein Singvogel in “in safe hands”. Während der Lockdowns konnten sich die Jugendlichen des JAWA-Projekts im Rahmen des Fotowettbewerbs an Tierfotografie versuchen. Die Projekte und Angebote sind heute so vielfältig, dass sie nicht nur vor Ort angesiedelt sind, das würde den Rahmen sprengen. Über 150 Mitarbeiter*innen sind beim Integrationshaus angestellt und arbeiten mit vielen weiteren Freiwilligen zusammen.
Das war von Anfang an das Konzept: interkultureller Austausch und individuelle Unterstützung durch freiwillige Mentor*innen, Vertrauenspersonen, Helfer*innen, Buddys, die während der Lockdowns, die die Arbeit im Integrationshaus denkbar erschwert haben, für manche sogar zur wichtigsten Bezugsperson wurden. “Freiwilligenarbeit ist ein Geben und Nehmen, ein Miteinander”, sagt Sonja Scherzer, während sie die ersten Freiwilligen begrüßt und auffordert, einen Antigentest zu machen. Auch die Freiwilligen bekommen im Integrationshaus umfassende Beratung und Schulungen, wie etwa den Buddy-Kurs, der unabhängig vom Atelier VIA stattfindet und die Freiwilligen auf ihre Aufgaben und Themen wie psychische Gesundheit, Grundversorgung und interkulturelle Kommunikation vorbereiten soll.
Das Atelier VIA, das übrigens für „Vernetzt – Ideenreich – Aktiv“ steht, ist hingegen eine Vernetzungsmöglichkeit für alle Freiwilligen, die mit geflüchteten Menschen arbeiten, nicht nur für jene des Integrationshauses. Oft bringen sie auch ihre Buddys mit. Manchmal kommen sogar Menschen, die früher selbst betreut wurden und sich jetzt freiwillig engagieren. Mal kocht und musiziert man gemeinsam, mal macht man einen Handyfoto-Workshop, mal informiert man sich zu unterschiedlichen Themen. “Unsere Freiwilligen sollen hauptsächlich eine Tür nach außen sein, raus aus der Blase”, sagt Scherzer.
Normalerweise findet der Buddy-Kurs in dem Raum statt, in dem sich heute das Atelier trifft. “Wir haben eine Rochade gemacht, weil in dem Raum, in dem das Atelier normalerweise stattfindet, heute ein Konzert für die Bewohner*innen ist”, erklärt sie, nachdem sie ihrer Kollegin vom Buddy-Kurs einen verirrten Besucher zugeführt hat. Sie switcht auf Russisch und verweist eine Bewohnerin an das Konzert nebenan. Die Wände rund um den Sitzkreis sind gepflastert mit Plakaten der bisher 28 Flüchtlingsbälle, die das Integrationshaus immer im Frühjahr veranstaltet. Auf jenem des allerersten Flüchtlingsballs steht: “Kurt Ostbahn & Freunde”. Der nächste am 13. Mai 2023 wird der erste ohne Willi Resetarits sein, der bei einem tragischen Unfall nach dem Flüchtlingsball 2022 ums Leben kam. Scherzer schluckt kurz, der Blick streift über die Plakate an den Wänden. Trauer und Schock sitzen nach wie vor tief. “Das Integrationshaus wird in seinem Sinne weitergeführt”, sagt sie fest entschlossen. “Ich werde jedenfalls meinen Teil dazu beitragen.”
„Der Flüchtlingsball ist kein Ball für die oberen 10.000, sondern für alle – para todos, unter besonderer Betonung derer, die ganz unten sind – im Moment.“
Willi Resetarits
Der Raum um uns hat sich mittlerweile mit Menschen gefüllt, zwischen den Trennwänden sitzen Freiwillige unterschiedlichen Alters und Backgrounds. Die Vortragende des heutigen Abends stellt sich vor. An diesem Dienstag wird es um das brennende Thema Wohnungssuche gehen.
Mehr zum Thema? Im Rahmen unseres Schwerpunkts „Engagement“ haben wir einige Hilfsorganisationen besucht, wie zum Beispiel das Ute Bock Haus im 10. Bezirk.