Landkind vs. Stadtkind: Liebe Wiener, was soll das mit eurem „Ur“?
Unsere Redaktion ist so vielfältig wie sie wunderschön ist – das haben objektive, unabhängige Studien ergeben. Daher tummeln sich in der Wiener Burggasse sowohl eingeborene Stadt- als auch „zuagraste“ Landkinder. Und die sind sich nicht immer einig. Weil wir gerne zündeln, fachen wir den Stadt-Land-Battle in dieser Kolumne mit vollem Bewusstsein an. Dieses Mal diskutieren das Stadtkind und das Landkind über das Wiener „Ur“.
Sprache kann verbinden, Sprache kann aber auch trennen. Das ist besonders in Österreich ziemlich offensichtlich: Die einen krampft’s beim Tiroler Dialekt z’samm, die anderen lieben ihn und wieder anderen finden den Kärntner Dialekt „unglaublich süß“. Dialekte tragen zum Selbstbild und zur regionalen Identitätsstifung bei. So sehr die unterschiedlichen Dialekte die Bundesländer auch manchmal trennen, so sind sich doch zumindest bei einem scheinbar alle einig: Hauptsache nicht Wienerisch! Besonders das Wiener „Ur“ ist Anlass für so manchen Grant. Doch warum eigentlich? Und was sagen die Wiener selbst dazu? Landkind und Stadtkind diskutieren mal wieder.
Julia, das Landkind
Als ich mich vor zehn Jahren dazu entschieden habe, dem Landleben den Rücken zu kehren und in die große weite Welt – also nach Wien – zu ziehen, hatte ich gehofft, neben der Freiheit auch ein Stück weit mich selbst zu finden. Was mir auch wirklich gut gelungen ist: Dank Uni und Theater-Kurs konnte ich mir relativ schnell ein soziales Leben in Wien aufbauen und liebe es bis heute, in einer der schönsten Städte der Welt zu leben.
Aber liebe Viki, ein gravierendes Problem haben wir da schon: Ja, sowohl du und ich als auch Wien und ich. Denn warum müsst ihr zwei so unattraktive Buchstaben in jeden eurer Sätze verpacken und daraus ständig eure Superlative formen? Und das Ganze noch dazu nasal. Das einzige „Ur“ das für mich als Landkind eine Bedeutung hat, schreibt man mit „h“ und sagt mir die Uhrzeit. Klar, über österreichischen Dialekt lässt sich streiten. (Kärntnerisch zum Beispiel.) Dem Mundl-Leiwand kann ich ja auch noch einen gewissen Charme abgewinnen, und sogar dem Wiener Grant, aber dem „Ur“? Was bedeutet das denn überhaupt? Und warum könnt ihr nicht „Voi“ sagen, so wie wir Landkinder?
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Viki, das Stadtkind
Meine liebe Julia, ich wusste, dass das „Ur“ zwischen uns irgendwann zum Problem wird. Denn alle meine Freunde aus den anderen Bundesländern krampft’s jedes Mal zusammen, wenn ich etwas „ur leiwand“, „ur lustig“ oder „ur traurig“ finde. Das finde ich schon ur unfair. Immerhin fahre ich ja auch nicht nach Villach und trete jedem Kärntner gegen’s Schienbein, der „lei a bissale a Wosa“ trinkt. Nein, beim Hass aufs „Ur“ spürt man finde ich ganz deutlich den kategorischen Grant der anderen Bundesländer auf die Wiener. Generell. Und überall. Sobald ich einen Schritt aus Wien rausmache, weht er mir entgegen. Okay, ganz so schlimm ist es nicht. Aber bei den Verwandten eines Freundes in Kärnten muss ich tatsächlich penibel darauf achten, dass mir nicht unabsichtlich das stigmatisierende „Ur“ zwischen meine Wörter rutscht.
Warum macht euch das so aggressiv? Und warum bekommt ihr „suiche Kabel“, wenn’s um die Wiener und ihr „Ur“ geht? Denn jetzt mal ganz ehrlich: Ich liebe mein „Ur“. Und je öfter mich die Landkinder deswegen anstänkern, desto bewusster hau’ ich’s raus. Ur provokant, oida. Das „Ur“ selbst hat eigentlich nur eine Bedeutung: die Verstärkung. Und was gibt’s besseres als alles um ein Eck intensiver zu erleben? Genauso wie das „Oida“ ist das „Ur“ das perfekte Ventil, um seiner Message, die – ja, manche Klischees sind ja nicht ganz unbegründet – meistens grantig ist, genügend Nachdruck zu verleihen. Man kann es dank des Vokals ganz lang ziehen: „Hast du das von Helene Fischer und Florian Silbereisen gehört? Uuuur traurig.“ Oder man nützt es selbst als Antworthülse: „Voll kalt heute, oder?“ „Ur!“ Es ist quasi das Schweizer Taschenmesser der Sprache. Ur geil, oder?
Das „Ur“ gibt der Sprachwissenschaft aber tatsächlich einige Rätsel auf. Ganz eindeutig geklärt ist seine Herkunft nämlich nicht. Natürlich kennt man es als Vorsilbe wie in „uralt“, „Urgestein“. So existiert es also schon länger. Aber das Wiener „Ur“ im Sinne von „sehr“ kam laut Axel N. Halbhuber in „Wann verlor das Riesenrad seine Waggons“ erst in den 1970ern und 1980ern auf. Denn ältere Wiener verwenden es eigentlich kaum. Außer um besonders jung zu wirken: „Damit kann man zeigen, dass man aus Wien ist, oder man gibt sich jugendlich“, sagt Sprachwissenschaftler Ludwig Maximilian Breuer im Gespräch mit der „Wiener Zeitung“. „Beispielsweise ist ‚ur’ ein sehr expressives Wort. Man kann es also ur oft einsetzen.“ Na bitte, da hast du’s, liebes Landkind. Das „Ur“ ist sogar sprachwissenschaftlich abgesegnet.
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Was das Landkind und das Stadtkind auch immer wieder beschäftigt, ist das Grüßen. Doch was uns alle eint, sind die 90er. Bei uns lest ihr, warum.