Tanzen für alle: Lillis Ballroom bietet barrierefreie Tanzkurse an
Wie sehen Tanzstunden mit Menschen mit Seh- oder Hörbeeinträchtigung aus? Wir waren im Tanzstudio Lillis Ballroom am Donaukanal, haben es uns angesehen und nachgefragt.
Wer am Donaukanal entlang spaziert, hört die Musik schon von Weitem. Das mag nicht ungewöhnlich erscheinen, da sich hier Clubs und Lokale aneinanderreihen. Besonders ist aber die Art der Musik. Statt Techno oder Pop hört man vor den Stadtbahnbögen 326 bis 329 lateinamerikanische Musik. Hier befindet sich nämlich das Latin-Tanzstudio Lillis Ballroom. Das Besondere daran: Es ist ein inklusives und zertifiziert barrierefreies Tanzstudio für sehende, blinde und sehbeeinträchtigte Menschen, wie es die Betreiber*innen beschreiben.
Begegnung über Bewegung
Das Studio, das sich über vier Bögen erstreckt, ist hell und modern eingerichtet, indirekte Beleuchtung leitet den Weg zu den Tanzräumen. Das ist nicht (nur) aus ästhetischen Gründen so: Lillis Ballroom macht es für Menschen, die sehbeeinträchtigt sind, leicht, sich zurechtzufinden. Namensgeberin und Gründerin Lilli Kahane ist selbst schwer sehbeeinträchtigt und in ihrer Tanzausbildung dadurch immer wieder auf Hindernisse gestoßen. 2018 hat sie ihr eigenes Tanzstudio eröffnet, um Tango, Salsa und Co. anderen sehbeeinträchtigten Menschen zugänglich zu machen.
Dabei richtet sich das Studio aber keineswegs nur an Blinde, sondern an alle. Man wolle einen Ort schaffen, an dem man “miteinander in Austausch und in Begegnung gehen kann, über Musik, über Tanz, über Bewegung”, sagt Petra Schön, Leiterin von Lillis Ballroom. Das Wichtigste sei die Offenheit der Menschen, auch wenn es anfangs immer wieder Berührungsängste gebe: “Wenn man miteinander noch nicht viel Kontakt hatte, dann ist es oft schwierig, sich vorzustellen, wie das denn funktionieren soll”, sagt sie.
Tanzen nach Gefühl
Stichwort Berührungsängste: Die gebe es auch vor dem Tanzen selbst. “Sieht das eh gut aus?”, ist womöglich eine Frage, die sich viele auf der Tanzfläche stellen. “Tanzen ist nicht so einfach – da zeigt man sich. Viele haben Lust drauf, trauen sich aber nicht”, so Schön. Das sei bei Sehenden und Nichtsehenden so. “Wir versuchen, die Freude am Tanzen spürbar zu machen.” Einerseits gelingt das über die Methode: “Bei uns geht es nicht darum, Choreografien oder Abfolgen zu lernen – das ist vielleicht ein Unterschied zu klassischen Tanzschulen.” Vielmehr sollen Grundelemente vermittelt werden, die die Teilnehmer*innen dann in der Improvisation anwenden können, erklärt die Leiterin des Studios.
Andererseits setzen die Trainer*innen bei Lillis Ballroom auch immer wieder das Schließen der Augen oder die sogenannte Tanzbrille – eine Art Schlafmaske – beim Tanzen ein. “Wir haben eine Zeitlang ganz stark damit gearbeitet, weil wir ausprobieren wollten, wie das ist, wenn alle gemeinsam nichts sehen. Es ist aber schwierig, weil der Sehsinn uns hilft, uns in der Welt zu orientieren.” Nun wird die Tanzbrille punktuell eingesetzt. Das sei vor allem dann hilfreich, wenn die Teilnehmer*innen etwas gelernt haben und es darum geht, “ins Gefühl zu kommen”, wie Schön es formuliert. Man könne dann mehr auf die Impulse des oder der anderen achten. Viele Zusammenstöße gebe es dadurch nicht: “Wenn man gut spürt, dann nimmt man nicht nur sich und die anderen besser wahr, sondern auch die Gruppe und den Raum.”
Musik spüren
Während sich einige Paare noch in der Garderobe auf die Tanzstunde vorbereiten, versucht der Trainer im Tanzraum, die Musikanlage mit einer kleinen Bluetooth-Box zu verbinden. Denn ein gehörloses Paar besucht den Tango-Kurs und über die Box spüren die beiden den Beat der Musik. Mittlerweile gibt es bei Lillis Ballroom nicht nur Kurse für blinde Personen, sondern auch welche mit Übersetzer*innen für Gebärdensprache. So können auch gehörlose Menschen am Tango-Unterricht teilnehmen. Weil tanzen ohne Musik frustrierend sein kann, haben die Betreiber*innen des Studios neben der ÖGS-Übersetzung nach einer Lösung für gehörlose Teilnehmer*innen gesucht: “Musik ist ein essentieller Teil des Tanzens. Mit der Bluetooth-Box spüren die gehörlosen Teilnehmer*innen den Rhythmus durch ihre Hände”, sagt Petra Schön. Das allein reiche schon, um ihnen wieder eine Anbindung an die Gruppe zu geben.
In manchen Fällen gibt es also einfache Lösungen, um alle Teilnehmer*innen in die Gruppe einzubinden. Gleichzeitig sind Inklusion und Barrierefreiheit große Vorhaben: “Das sind große Begriffe, die eigentlich nicht erreichbar sind”, sagt Petra Schön. “Letztes Jahr haben wir das Zertifikat Fair für Alle gemacht. Wir haben fast eineinhalb Jahre gebraucht, um die ganze Organisation in Bezug auf Barrierefreiheit zu durchleuchten.” Dabei gehe es nicht nur um die Barrierefreiheit für Blinde und Sehbeeinträchtigte – das sei von Anfang an Teil des Konzepts gewesen. “Wir wollen nicht nur in Sachen Erreichbarkeit und Methode vor Ort, sondern in der ganzen Organisation soweit als möglich immer barrierefreier werden”. Das reiche von Dokumenten und Website über Feedback bis zur Qualitätssicherung.
Workshops für die Trainer*innen
In einem anderen Kurs lernen die sechs anwesenden Teilnehmer*innen heute Grundelemente aus Bachata und Salsa. Latin Roots ist ein Solo-Kurs mit Elementen aus fünf lateinamerikanischen Tänzen. Die Tanzbrille kommt heute nicht zum Einsatz, doch beim Aufwärmen schließen alle die Augen. So sollen die Teilnehmer*innen sich auf sich selbst fokussieren und sich auf das eigene Gefühl einlassen. “In unseren Solo-Kursen geht es schon um die Tänze mit den Schritten und den Grundelementen der Tänze, aber auch um spielerische Übungen, durch die wir verschiedene Tanzkompetenzen lernen”, erklärt Trainerin Nadine Steurer, die gemeinsam mit Yuri Columbie Banega den Kurs leitet. Die größte Herausforderung ist für die Tanzlehrerin, “dass wir alle dort abholen, wo sie gerade sind. Deshalb leiten wir manchmal alle gemeinsam an, manchmal braucht es aber auch Assistenz, die Menschen punktuell unterstützt.”
Weil inklusiver Unterricht neue Herausforderungen mit sich bringt, hat Lillis Ballroom vor der Eröffnung eine Fortbildung für Trainer*innen ins Leben gerufen. Dabei ging es vor allem darum, welche Kompetenzen es braucht, um die Stunden für alle zugänglich zu machen. Es finden immer wieder Sensibilisierungsworkshops statt und ein Inklusionscoach unterstützt das Team. Um das Wissen auch mit anderen zu teilen, ist aus Lillis Ballroom heraus der Verein Tanzen ohne Grenzen entstanden. Er will “die Themen Inklusion und Barrierefreiheit einer breiteren Öffentlichkeit näherbringen”, heißt es auf der Website.
Momentan arbeitet der Verein vor allem mit Schulen und Freizeitpädagog*innen zusammen. In weiterer Folge könnte er auch andere Tanzstudios dabei unterstützen, barrierefreier zu werden, sagt Petra Schön. “Es ist nicht immer einfach, es braucht Ressourcen und Aufmerksamkeit, aber es ist der Weg, an dem meiner Meinung nach nichts vorbeiführt.” Der Verein könne dann beispielsweise andere mit seinem Know-How beim Aufbau eines inklusiven Angebots unterstützen. Denn: “Es ist nicht immer alles möglich, aber es ist viel mehr möglich, als man denkt.”
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