„StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt“: Tanzen gegen das Patriarchat
Das Gewaltpräventionsprojekt “StoP – Stadtteile ohne Partnergewalt” will mit seinen Männer*tischen erreichen, dass sich auch Männer gegen Gewalt an Frauen engagieren. Ein Besuch bei einem gemeinsamen Männer*- und Frauen*tisch gibt Einblick, vor welchen Herausforderungen die Männerarbeit steht.
Anmerkung: Geschlechtsspezifische Gewalt betrifft Frauen und weiblich gelesene Personen sowie LGBTQIA+Personen und geht meist von Männern aus. Wenn wir in dem Beitrag von „Gewalt an Frauen“ schreiben, ist damit diese geschlechterspezifische Gewalt gemeint. Die StoP-Tische sind prinzipiell für alle Geschlechteridentitäten offen.
Drei Männer und sechs Frauen sitzen rund um zwei kleine Sofatische in einem großen Raum in der Rechten Wienzeile. Orangen und Äpfel, Neapoletanerschnitten und Soletti füllen die Tischplatten. Anstatt zu plaudern, gemeinsam etwas zu trinken und zu essen, starren die Teilnehmer*innen alle gebannt auf die Zettel, die sie vor sich haben. Aus einem Lautsprecher ertönt laut das Lied “Break the Chain”. Vereinzelt wippen die Teilnehmer*innen mit einem Bein, der Großteil liest stumm den Text mit, der vor ihnen liegt. Im nächsten Durchgang, erklären Jan Wunderlich und Christina Kopf vom Projekt StoP den Ablauf, singen alle mit.
Die Männer und Frauen, die hier sitzen, sind kein Chor oder Gesangsverein, sondern Teilnehmer*innen des Männer*- und des Frauen*tischs in Margareten, die vom Gewaltpräventionsprojekt StoP organisiert werden. Und sie haben an diesem Abend noch viel vor: Beim ersten gemeinsamen Frauen*- und Männer*tisch bereiten sie ihre nächste Aktion vor – sie tanzen bei One Billion Rising mit, einer getanzten Demonstration gegen Gewalt an Frauen.
StoP steht für Stadtteile ohne Partnergewalt. Nicht nur als Abkürzung, sondern auch als Mission. Das Projekt setzt sich dafür ein, Gewalt gegen Frauen und in weiterer Folge auch Femizide zu verhindern und die Zivilcourage in der Gesellschaft zu stärken. Um das zu schaffen, will das Projekt die Menschen dort erreichen, wo Gewalt passiert – im eigenen Zuhause, in der Nachbarschaft. Derzeit ist StoP in neun Bezirken in Wien vertreten. Dass man die Menschen mit dem Thema Gewaltschutz und -prävention erreicht, ist in Österreich bitter notwendig. Allein im vergangenen Jahr gab es laut den Autonomen Österreichischen Frauenhäusern 28 mutmaßliche Femizide, laut Statistik-Austria-Zahlen aus dem Jahr 2021 ist in Österreich jede dritte Frau von körperlicher und/oder sexueller Gewalt betroffen.
„Gewalt an Frauen kann nur beendet werden, wenn Männer Teil der gesamtgesellschaftlichen Lösung sind.“
Jan Wunderlich, Männerarbeit bei StoP
Männlichkeitsbilder hinterfragen
Das Ziel von Präventionsarbeit ist, dass es erst zu gar keinen Gewalttaten kommt. Hier setzt auch der Männer*tisch von StoP an. “Ein wichtiger Punkt ist, Männer zu sensibilisieren und dazu zu bringen, ihre Einstellung und Verhaltensweisen zu überdenken“, erklärt Jan Wunderlich, zuständig für Männerarbeit und den Margaretener Männer*tisch bei StoP. “Macht- und Besitzansprüche sind ein ganz wichtiger Faktor, warum Frauen von männlicher Gewalt betroffen sind. Es gilt, Männlichkeitsnormen zu hinterfragen und neu zu denken, um die Verbindung zu männlicher Gewalt an Frauen aufzubrechen.” Auch Wissensvermittlung an Jugendliche sei ein wichtiges Konzept in der Präventionsarbeit. “Gewalt an Frauen kann nur beendet werden, wenn Männer Teil der gesamtgesellschaftlichen Lösung sind. Und wenn es nicht nur ein kleiner Teil versteht, sondern wenn auch ein großer Teil aktiv daran teilnimmt”, sagt Wunderlich.
Laut Mario Depauli, der gemeinsam mit Wunderlich zuständig für Männerarbeit bei StoP ist, braucht es vor allem einen gesellschaftlichen Wandel. “Wir wollen es schaffen, dass Männer, sobald es beispielsweise zu sexistischen Witzen kommt, ganz stark Stellung beziehen, sodass Täter merken: In der Gesellschaft ist kein Raum für Gewalt und wenn ich gewalttätig werde, stehen da sofort fünf Personen, seien es Frauen oder Männer, die das nicht tolerieren.”
„Das Vorurteil, dass eine sehr linke, akademische Bubble zu den Männer*tischen kommt, widerlegt sich relativ schnell. Insgesamt ist es aber doch eine eher homogene Gruppe.“
Jan Wunderlich
Keine Täter, sondern Engagierte
Das Herzstück von StoP sind die Männer*- und Frauen*tische. Hier können sich alle engagieren – ”wir sind keine Täter- oder Selbsthilfegruppen”, betont Wunderlich. Bei einem klassischen Männer*tisch tauscht sich die Gruppe über Themen wie Männlichkeitsbilder oder Feminismus aus, vermittelt Wissen über verschiedene Arten von Gewalt, aber man engagiert sich auch aktivistisch: “Es ist wichtig, dass wir uns nicht nur hier, in unseren kleinen Bubble, treffen, sondern dass wir auch in die Öffentlichkeit gehen und dort Aktionen planen, um mit Leuten in Kontakt zu treten und sichtbare Zeichen gegen Gewalt an Frauen zu setzen”, sagt Wunderlich. So wie sie es heute Abend auch planen.
Während andere im Sitzkreis nur ganz leise mitsingen, bewegt sich Christian zur Musik und stimmt beherzt mit ein. Der 64-Jährige in roter Pluderhose, dünnem Schal und Mütze kommt seit zwei Jahren regelmäßig zu den Männer*tischen, weil er, wie er erzählt, auf seine Privilegien als Mann aufmerksam gemacht wurde und sich nun weiterbilden will. Heute ist er einer von nur drei Männern, die teilnehmen. Im Durchschnitt kämen laut Wunderlich vier bis neun Leute zum Männer*tisch. Das sind nicht gerade Massen, die Wunderlich und seine Kolleg*innen erreichen. Und: Es sind nicht nur wenige, sondern auch eher Männer, die sich bereits im Vorhinein für Themen wie Männlichkeitsnormen oder Feminismus interessieren. “Das Vorurteil, dass eine sehr linke, akademische Bubble zu den Männer*tischen kommt, widerlegt sich relativ schnell, weil die Hintergründe relativ unterschiedlich sind. Wobei man natürlich sagen muss, dass es doch insgesamt eher eine homogene Gruppe an Männern ist”, so Wunderlich.
Vermittlungsarbeit als Herausforderung
Doch wie erreicht man dann nun jene, die sich nicht in der Bubble befinden – und Aufklärung in Sachen Gewalt und Patriarchat vielleicht notwendiger hätten? “Auf die Frage, wie man Männer erreicht, die vermeintlich nicht von patriarchaler Gewalt betroffen sind, haben wir keine einfache Antwort”, sagt Wunderlich. “Aber wenn man es sich genauer ansieht, dann sind genauso auch Männer von patriarchalen Strukturen direkt oder indirekt betroffen. Den Männern das zu vermitteln ist eine sehr, sehr große Herausforderung, vor der die Männerarbeit steht.”
Diese Hürde will StoP überwinden, indem man zum Beispiel mit Schlüsselpersonen in Kontakt tritt, über die man dann Zugang zu unterschiedlichen Gesellschaftsschichten bekommt. So engagiere sich beispielsweise der Obmann eines Fußballvereins, der das Wissen, das er vom Männer*tisch mitnimmt, dann an die Spieler weitergeben und signalisieren kann, dass es weder am Fußballfeld noch abseits davon Platz für Gewalt gibt, erzählt der Wunderlich. Weitere Möglichkeiten sind, mit Männern im Beisl, beim Friseur, in Trafiken oder bei Veranstaltungen ins Gespräch zu kommen und über das Thema zu sprechen. “Dass die Leute im Nachhinein wirklich das Engagement ergreifen und dann zum Beispiel zum StoP-Männer*tisch kommen, das ist die große Herausforderung”, sagt Wunderlich. Doch selbst, wenn sie nicht zum Männertisch kommen, sich aber mehr Männer mit der Thematik auseinandergesetzt haben, sei schon ein erster Schritt erreicht.
Männer unter sich
Diejenigen, die sich dazu entschieden haben, am Männer*tisch teilzunehmen, stehen nun in der Mitte des Raumes, wie Maxim. Der 32-jährige Student und Sozialarbeiter interessiert sich für feministische Themen, besonders für die Rolle von Männern in dem Themenkomplex, wie er erzählt. Bei einer öffentlichen Aktion des Männer*tischs war Maxim bisher noch nicht dabei. Doch das wird sich bald ändern. Bevor es aber an das Lernen der Choreografie geht, sollen sich die Teilnehmer*innen beim heutigen gemischten Tisch erstmal ein wenig kennenlernen. Auf der Agenda stehen ein paar “Aufwärmspiele” – Christian, Maxim und die anderen Teilnehmer*innen stellen sich nach Schuhgröße, nach Geschwisterzahl oder der Länge des Anfahrtswegs auf. Denn: Die Frauen und Männer, die gemeinsam bei One Billion Rising tanzen werden, kennen einander gar nicht. Im Normalfall sind die zweiwöchentlichen Treffen nach Geschlecht getrennt. Warum ist das eigentlich so?
“Es gibt nicht nur diese binäre Trennung zwischen Männer*- und Frauen*tischen. Es gibt genauso Nachbarschafts- oder Grätzeltische, die unabhängig von der Geschlechtsidentität sind”, stellt Wunderlich klar. “Gleichzeitig macht es auch Sinn, weil wir uns an der Lebensrealität der Mehrheitsgesellschaft orientieren und die sieht nach wie vor noch binär aus.” Christian und Maxim, die beiden Teilnehmer beim Männer*tisch, befürworten das Konzept. Dadurch, dass Männer unter sich sind, habe man vielleicht “mehr Spielraum, Fehltritte zu machen – und man macht Fehltritte und man sagt vielleicht manchmal etwas, was daneben ist. Ich habe manchmal das Gefühl, dass das ermöglicht, sich etwas freier zu bewegen”, erklärt Maxim. “Nicht, dass ich es nicht einsehen könnte, wenn ich etwas Falsches mache. Aber es eröffnet Lernräume, die vielleicht sonst nicht da wären.” Christian führt noch ein Argument ins Treffen: Bei Frauenthemen seien Frauen die Expertinnen, findet er – Stichwort Mansplaining. Er würde dann “dazu neigen, den Frauen in einer gemischten Runde den Vortritt zu lassen, mit dem was sie sagen und auch in dem, was dann Gewicht hat. Und dann mache ich mich nicht so wichtig. Beim Männer*tisch kann ich mich aber wichtig machen”, sagt er und lacht.
„Dass es bei uns bis jetzt nur eine Bundeskanzlerin gegeben hat, zeigt ganz stark auf, wie stark das patriarchale System von der Politik auch immer noch gewollt wird.“
Mario Depauli, Männerarbeit bei Stop
Unter der Discokugel gegen Gewalt an Frauen
Wichtig macht sich heute niemand, schon gar nicht jetzt, wo es darum geht, die ersten Tanzschritte zu machen. Wieder ertönt das Lied “Break the Chain”, die Gruppe steht zu Beginn noch recht verhalten unter der Discokugel im hell beleuchteten Raum. Mittlerweile haben sich die Tänzer*innen blau-grüne Fahnen von StoP geschnappt, die sie sich bei der Aktion überwerfen wollen. Christina Kopf, die Leiterin des Frauen*tischs, zeigt die Tanzschritte der Choreo vor – ganz schön anspruchsvoll für einen einzigen Übungsabend. Die Gruppe entschließt sich dazu, nur einige Schritte einzuüben und sonst auf Freestyle zu setzen. Besonders wichtig ist der Break-the-Chain-Move, bei dem angedeutet wird, etwas mit den Händen über dem Knie zu zerbrechen.
Bei Aktionen wie dem Flashmob bei One Billion Rising – bei denen explizit alle zum Mitmachen eingeladen sind – machen die Frauen*- und Männer*tische nun also doch gemeinsame Sache. “Unsere Rolle als Männer vom Männer*tisch sehen wir darin, dass wir als Verbündete auftreten, uns solidarisieren und versuchen, die Frauen dort zu stärken, wo wir können”, erklärt Wunderlich die Teilnahme. Dass Männer als Verbündete auftreten, ist in Österreich nicht selbstverständlich – die patriarchalen Strukturen sind hierzulande stark ausgeprägt, was mit ein Grund ist, warum es in Österreich so viele Femizide gibt. Mario Depauli sieht vor allem in der Politik noch viel Handlungsbedarf. “In Österreich wirken die patriarchalen Strukturen auch in der Politik noch stark. Dass es bei uns bis jetzt nur eine Bundeskanzlerin gegeben hat, Brigitte Bierlein aus der Übergangsregierung, zeigt meiner Meinung nach schon ganz stark auf, wie stark das patriarchale System von der Politik auch immer noch gewollt wird.” In Aufsichtsräten, in der Justiz oder auf kommunaler Ebene setze sich dies fort.
Nach der Aktion ist vor der Aktion
Was muss in Österreich also getan werden, um die Situation in Österreich in Sachen Gewalt gegen Frauen zu verbessern? “Wo man auf jeden Fall ansetzen könne, wäre, dass Projekte wie StoP auch auf kommunaler Ebene gefördert werden“, meint Depauli. “Aber auch mehr Anlaufstellen zu schaffen, an die sich Betroffene wenden können, mehr Schulungen für Polizist*innen und, dass das Wissen in alle Institutionen getragen wird, damit das Thema Gewalt ernster genommen wird – das alles wären Schritte.” Neben gesetzlichen Maßnahmen, die zur mehr Gleichstellung führen, müsse man aber auch in der breiten Gesellschaft ansetzen, “um Einstellungen, Männlichkeitsnormen und stereotype Rollenbilder aufzubrechen”, ergänzt Wunderlich. Und da kommen auch die Männer*tische wieder ins Spiel.
Du bist von Gewalt betroffen oder kennst Frauen*, die von Gewalt betroffen sind? Wende dich rund um die Uhr und kostenlos an die Frauenhelpline: 0800 222 555
Männer in Krisensituationen können sich rund um die Uhr, kostenlos und anonym an die Männerinfo wenden: 0800 400 777
Mehr zum Thema Engagement findest du unter dem Link zum Schlagwort. Dort liest du zum Beispiel, wo du dich in Österreich freiwillig engagieren kannst.