Neunerhaus: Gesundheit hat viele Gesichter
Das Neunerhaus unterstützt obdach- und wohnungslose Menschen in Wien auf vielfältige Weise. Gesundheit wird dabei als ganzheitliches Konzept betrachtet, das über eine rein medizinische Versorgung hinausgeht.
Auf dem Kaffeeschaum unseres Cappuccinos stilisiert Kakaostaub ein Ahornblatt, während sich um uns die echten Blätter zu Laubhaufen zusammenrotten. Hinter uns bereitet sich ein selbst angepflanzter und für die ganze Nachbarschaft frei bepflückbarer Kräutergarten langsam auf den Winter vor. Davon will die Spätherbstsonne noch nichts wissen und legt sich schützend über den Gastgarten vom neunerhaus Café. Es ist Dienstag zu Mittag und für viele ist ein Besuch hier wie nach Hause kommen, ein ausgelagertes Wohnzimmer. “Wir verstehen uns als ein Ort für alle, ein Kaffeehaus, in dem jede*r willkommen ist”, sagt Laura Wahlhütter, die im Neunerhaus Café als Teamleiterin arbeitet. Während sich das Neunerhaus als Verein für obdach- und wohnungslose Menschen einsetzt, richtet sich das Café ganz bewusst nicht nur an diese Zielgruppe.
Nicht nur, aber auch: Im Café befinden sich Sozialarbeiter*innen und ein*e Peer-Mitarbeiter*in, der*die selbst von Obdachlosigkeit betroffen war und zwischen Nutzer*innen und Sozialarbeiter*innen vermitteln kann, wenn nötig. Vorrangig geht es im Café aber darum, in Kontakt zu treten, Vertrauen aufzubauen und Beziehungsarbeit zu leisten. Für viele ist es ein Ort, an dem sie der Einsamkeit entfliehen können, an dem auch jene Stimmen gehört werden, die im öffentlichen Diskurs oft stumm sind. Wenn es zu Beratungsgesprächen kommt, laufen sie bewusst so niederschwellig wie möglich ab – auf den ersten Blick erkennt man gar nicht, wer Sozialarbeiter*in ist und wer vielleicht gerade an seinem Laptop sitzt, um eine Seminararbeit für die Uni zu schreiben –, und sind ebenfalls nicht nur obdach- und wohnungslosen Menschen vorbehalten. “Zu uns kommen auch immer mehr Menschen, die von den Teuerungen betroffen sind”, sagt Wahlhütter. “Das spüren wir sehr, bei den Beratungsgesprächen, aber auch bei den Essen, die wir ausgeben.”
Gesundes Mittagessen für alle
Zwischen 11.30 und 14 Uhr gibt es im Neunerhaus Café, das übrigens im Industrial Chic ausgestattet ist wie das klassische Hipster-Café von nebenan, jeden Tag ein frisch gekochtes vegetarisches, oft sogar veganes Mittagessen. Während wir draußen im Gastgarten unseren Hawelka-Kaffee schlürfen, tüftelt drinnen in der offenen Küche ein Team an Gastro-Fachkräften zusammen mit einer Handvoll Freiwilligen an Erdäpfeln mit geschmortem Kraut und Rotkraut-Vinaigrette. Was klingt und auch aussieht, als würden das nur Steuerberater*innen und aufwärts zu Mittag speisen, kann sich hier jede*r leisten. Das Prinzip heißt: freie Spende. Man setzt bewusst auf gesundes Essen aus überwiegend biologisch angebauten Zutaten, um eine Alternative zu den Notfallmahlzeiten in den Notquartieren anzubieten. Lebt man auf der Straße oder in anders prekären Verhältnissen, ist gesundes Bio-Essen oft nicht leistbar und hat gegenüber anderen Dingen wahrscheinlich auch nicht oberste Priorität. “Viele Menschen, die zu uns kommen, sind schon lange nicht mehr gefragt worden, wie sie ihren Kaffee gerne trinken möchten. Und dann die Auswahl zu haben, ist für sie etwas ganz Besonderes”, sagt Wahlhütter.
Das Thema Gesundheit versteht man hier als mehrteiliges Puzzle – ”ganzheitlich”, wie es heißt, ein Zusammenspiel von psychischer und physischer Gesundheit. “Es reicht nicht, die Probleme nur aus einem Blickwinkel zu sehen. Uns ist wichtig, allen Lebensbereichen unserer Nutzer*innen Beachtung zu schenken, um sie nachhaltig zu unterstützen”, erklärt Stephan Leick, Allgemeinmediziner und ärztlicher Leiter des Gesundheitszentrums, das direkt neben dem Café liegt und so Hemmschwellen bewusst überbrückt: Wer sich im Café aufhält, mit den Sozialarbeiter*innen spricht, den kostet es womöglich weniger Überwindung, auch nach medizinischer Hilfe zu fragen. Die hellen, offenen Räumlichkeiten des Gesundheitszentrums wirken einladend, vertrauenswürdig, auch das ist ganz bewusst so gestaltet und soll schon auf den ersten Blick Wertschätzung suggerieren.
Nicht selten finden Patient*innen aber auch über die tierärztliche Versorgung den Weg ins Gesundheitszentrum. Sie ist auf der anderen Seite des Cafés angesiedelt und eine in der Form einzigartige Einrichtung in Österreich. “Viele Menschen nehmen keine ärztliche Hilfe in Anspruch. Wenn sie aber Hilfe für ihre Tiere annehmen, sind sie oft auch eher bereit, selbst ärztliche Hilfe anzunehmen”, erklärt Eva Wistrela-Lacek, die seit 20 Jahren eine Kleintierpraxis im 4. Bezirk betreibt und eine der etwa 30 ehrenamtlichen Tierärzt*innen im Neunerhaus ist. Manchmal seien die Tiere in besserem Zustand als ihre Besitzer*innen, weil diese sich mehr um das Wohlergehen ihres Tieres sorgen als um ihr eigenes. Wichtig ist, dass man ins Gespräch kommt und Nutzer*innen nicht nur ins Gesundheitszentrum, sondern auch zu den Sozialarbeiter*innen im Café weitervermittelt. Niederschwellig. Das ist hier überall das Credo.
Menschengesundheit – Tiergesundheit
Wir stehen in einem großen Raum mit zwei Untersuchungstischen; wer schon mal in einer Tierarztpraxis war, erkennt das Setting unschwer wieder. Wistrela-Lacek blickt während unseres Gesprächs immer wieder kurz zur Seite: Neben uns schläft ein rot gescheckerter Kater in einer Box seine Narkose aus. Er wurde gerade kastriert. Einer der üblichen Eingriffe hier. Vor dem Eingang wartet ein großer deutscher Schäferhund darauf, dass die Ordinationszeit anbricht. Etwas mehr als die Hälfte des “Klientels”, wie Wistrela-Lacek ihre tierischen Patienten nennt, sind Hunde, etwa 30 Prozent Katzen und der Rest Kleintiere. Die Tierärztliche Versorgung des Neunerhauses richtet sich sowohl an obdach- als auch an wohnungslose Menschen, also sowohl an Menschen, die auf der Straße leben, als auch an jene, die in entsprechenden Einrichtungen unterkommen. In den jeweiligen Einrichtungen und Anlaufstellen bekommen sie eine Überweisung zum Neunerhaus, die ein Jahr gültig ist und die kostenlose Behandlung ermöglicht.
Hunde werden etwa gechipt, registriert, geimpft, entwurmt und gegen Ektoparasiten behandelt – das gewährleistet einerseits, dass das Tier gesund ist, andererseits aber auch, dass die Menschen in seiner Umgebung gesund bleiben. Was wiederum Teil des ganzheitlichen Gesundheitskonzepts ist, auf das man hier großen Wert legt, und ein Argument, durch das die Akzeptanz für mitgebrachte Tiere in den Einrichtungen für wohnungslose Menschen gestiegen ist, sagt Wistrela-Lacek. “Einrichtungen wie das Neunerhaus haben festgestellt, wie wichtig das Tier als Partner ist, um einen sozialen Kontext zu haben. Viele Obdachlose wollten Einrichtungen nicht wahrnehmen, weil sie ihr Tier nicht mitbringen konnten.” Also hat sich die Tierärztliche Versorgungsstelle des Neunerhauses in Kooperation mit der Österreichischen Tierärztekammer zum Ziel gesetzt, obdach- und wohnungslose Tierhalter*innen zu unterstützen.
Medizinische Versorgung für alle
Das Neunerhaus begann bereits Ende der 90er als soziale Bürgerinitiative, um Menschen von der Straße zu holen. Als man sah, dass es damit allein nicht getan war, kam zunächst die zahnärztliche Versorgung dazu, dann auch ein allgemeinmedizinisches Angebot, das sich nicht ausschließlich an wohnungs- und obdachlose Menschen richtet, sondern auch an Nicht-Versicherte. In der Zahnarztpraxis arbeiten mindestens 30 Zahnärzt*innen ehrenamtlich. Seit diesem Herbst gibt es die “Praxis Psychische Gesundheit”, ein Team aus Sozialarbeiter*innen, diplomierten Krankenpfleger*innen, Ärzt*innen, Psychiater*innen und Peer Mitarbeiter*innen, die im Gesundheitszentrum und im Café ein offenes, unvoreingenommenes und leicht zugängliches Ohr haben.
Während die Krankheiten, die hier behandelt werden, sich nicht gravierend von jenen in einer Kassenordination unterscheiden, ist der Kontrast zur herkömmlichen Arbeitsweise doch enorm. Man arbeitet hier etwa mit Medikamentenspenden von der Medikamentenhilfe des Österreichischen Roten Kreuzes, bei denen es allerdings immer mal wieder zu Engpässen kommen kann, die die Mediziner*innen zum Improvisieren zwingen. Die Medikamente werden kostenlos direkt in der Ordination ausgegeben – während unseres Interviews sitzt Stephan Leick neben einem Medikamentenschrank, dessen Schubladen mit einzelnen Krankheiten beschriftet sind. Die Vereinbarung von weiterführenden Kontrollterminen gestaltet sich mitunter schwieriger, weil die unberechenbaren Lebensumstände der Patient*innen eine Planbarkeit schwer zulassen. Und auch, wenn das Gesundheitszentrum ein möglichst großes Spektrum an Anliegen abdeckt, fallen aufwändigere Behandlungen aus dem Rahmen: Zum Beispiel können hier keine Operationen oder Chemotherapien durchgeführt werden. Dafür arbeitet das Neunerhaus mit Spitälern und einem Netzwerk aus Fachärtz*innen zusammen, die betreffende Patient*innen pro bono übernehmen.
Wo Helfende an Grenzen stoßen
Doch auch da gibt es Grenzen, wenn die Behandlungen zu teuer werden. “Dramatisch ist es oft bei Krebserkrankungen, bei denen Chemos Hunderttausende Euro kosten würden und Spitäler das nicht leisten können”, erzählt Leick. “Dann müssen wir Patient*innen sagen, dass wir sie unterstützen und die Beschwerden lindern, wir sie aber nicht heilen können.” Eine Heilung, die für jemanden, der*die in Österreich versichert ist, durchaus möglich wäre. Solche Fälle bleiben im Gedächtnis, noch weit über die Ordinationszeiten hinaus. Deshalb setzt man innerhalb des Teams auf Supervision, um Belastungssituationen möglichst abzufedern.
Stephan Leick erinnert sich an einen Fall vor ein paar Monaten, einem 18-jährigen Asylwerber aus einem Nicht-EU-Land, der seinen Status verloren hat. Während er sich in Österreich aufgehalten hatte, sei er schwer krank geworden und bekam in einer Klinik ein Herz transplantiert. “Nach einer Organtransplantation muss man Medikamente nehmen, um die Abstoßungsreaktion zu verhindern”, erklärt Leick. Nachdem der Patient seine Versicherung verloren hatte, konnte er sich die Medikamente nicht mehr leisten, die bis zu 1.000 Euro im Monat ausgemacht hätten – Kosten, die sich auch ein*e Normalverdiener*in ohne Versicherung nur schwer leisten könnte. Mithilfe von Pharmaunternehmen und der Klinik ermöglichte das Neunerhaus, dass er seine Therapie weiterführen kann, bis sich die Situation geklärt hat und der Patient wieder versichert war.
Angebot und Nachfrage
Der Bedarf an Angeboten wie jenen im Neunerhaus sei groß, sagt Leick. Das Gesundheitszentrum sei stark gewachsen und trotzdem bleibe die Zahl an Patient*innen, die nicht direkt am selben Tag versorgt werden können, weil die Zeit nicht reicht, konstant. Zugleich ist der bevorstehende Winter für Menschen ohne Obdach eine massive Bedrohung, eine Bedrohung allerdings, die der Zivilbevölkerung dank Initiativen wie dem Kältetelefon oder der KälteApp immer bewusster wird. “Wenn einem selbst im Winter kalt ist, spricht das die Hilfsbereitschaft stärker an als im Sommer”, sagt Leik. Aber auch der Sommer mit seinen starken Hitzewellen sei nicht zu unterschätzen, manchmal sogar bedrohlicher als der Winter. Wenn jemand im Sommer in der Wiese liegt, geht man vielleicht erstmal nicht unbedingt davon aus, dass er*sie einen Hitzeschlag erlitten hat.
Auch auf Seiten der tierärztlichen Versorgung ist die Nachfrage nach wie vor hoch. In zwölf Jahren konnten 6.000 Tiere behandelt werden. Dabei ist man gänzlich auf Spenden und Kooperationen angewiesen, die Tierärzt*innen, Assistent*innen und freiwilligen Mitarbeiter*innen arbeiten unentgeltlich. Ist ein Fall zu kompliziert, verweist man ihn an die Veterinärmedizinische Universität, die einige Fälle kostenlos fürs Neunerhaus übernimmt. Der Bedarf wäre aber sicher noch größer, meint Eva Wistrela-Lacek, und würde sogar steigen: “Weil das Leben nicht billiger wird. Wir haben natürlich eine sehr detaillierte Zielgruppe, aber es gibt sicher viele Menschen, die auch in prekären Situationen leben, die wir aber nicht behandeln können, weil das unsere Ressourcen sprengen würde.” Mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat das Neunerhaus dieses Angebot auch für Geflüchtete aus der Ukraine geöffnet, Hunde und Katzen müssen registriert, gechipt und geimpft werden, was den Arbeitsaufwand um einiges erhöht hat. “Aber das war notwendig, immerhin standen diese Tiere ja, wie die Menschen auch, plötzlich auf der Straße”, sagt Wistrela-Lacek.
Als wir aus dem Ordinationssaal treten, kämpft sich der rotpelzige Kater gerade erfolgreich zurück in den Wachzustand und der Schäferhund wird am Schalter von seinem Besitzer angemeldet. Draußen im Gastgarten des Cafés hat jemand einen riesigen, hochwertigen Ölmalkasten mitgebracht und bewegt seinen Pinsel sorgfältig und behutsam über das Papier, vertieft und doch Teil des bunten Gewusels. Eins steht fest: Man fühlt sich wohl hier, egal woher man kommt. Unterstützen kann man das vielfältige Angebot des Neunerhauses mit Geld- und Sachspenden, aber auch mit freiwilliger Mitarbeit im Neunerhaus Café oder als medizinische Fachkraft, falls man eine solche Ausbildung besitzt.
Alle Artikel unseres Schwerpunkts findet ihr unter dem Schlagwort Engagement. Dort lest ihr zum Beispiel auch, wie das Beratungszentrum Sophie Sexarbeiter*innen unterstützt.