Leerstandsnutzung: Wenn Kunst nie zuhause ist
In einer leerstehenden Schule im 1. Bezirk wohnt bis Ende Mai die Initiative Never at Home. Das Projekt will leerstehende Häuser in Wien künstlerisch bespielen – mit Ateliers, Werkstätten, Veranstaltungen und Ausstellungen. Ein Besuch zeigt, wie wichtig leistbarer Raum für die Kunstszene ist.
Der Fischgräten-Parkettboden knarzt, wenn man den Raum betritt, die Kreidespuren auf der dunkelgrünen Tafel sind verblasst und die Farbe an den Wänden bröckelt. Statt Pulten und Sesseln findet man in den Klassenräumen der Schellinggasse 13 Pinsel, Farben und auch die ein oder andere Bierflasche. Statt Schüler*innen trifft man Künstler*innen auf den Gängen. Wo einst eine Schule war, befindet sich seit September 2021 das vorübergehende Quartier von Never at Home.
Leerstand künstlerisch bespielen
Never at Home, also niemals zuhause, ist eine Initiative, die leerstehende Räumlichkeiten in Wien künstlerisch nutzen will. “Wir sind ein Verein, der Zwischennutzungen anstrebt. Die Schule in der Schellinggasse ist unser erstes Haus – das sehr großzügig ausfällt”, sagt Stefan Altenriederer von Never at Home. Er ist eine von sechs Personen, die das Projekt auf die Beine gestellt haben.
“Sehr großzügig”, das bedeutet, dass auf 3.000 Quadratmetern 39 Künstler*innen noch bis Ende Mai Ateliers gefunden haben. Neben den Ateliers gibt es auch Werkstätten, in denen etwa getöpfert wird, und Veranstaltungsräume, die man tage- oder stundenweise anmieten kann. Im Rahmen von Events, Workshops. Festivals und Open Studios werden die vier angemieteten Stockwerke der Schule der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Die Suche nach leistbarem Raum
3.000 Quadratmeter ungenutzte Fläche mitten im ersten Bezirk, das klingt erstmal viel. Wie viel Leerstand es in Wien gibt, dazu gibt es keine genauen Zahlen. Denn Leerstand muss nicht gemeldet werden, heißt es von den Kreativen Räumen Wien (KRW), einem Service für Leerstandsaktivierung und Zwischennutzung im Auftrag der Stadt Wien. Die KRW beraten Raumsuchende, die sich eine reguläre Miete in der Regel nicht leisten können und vernetzen sie mit Eigentümer*innen von (leerstehenden) Häusern oder Geschäftsflächen. 500 Beratungen führen die Kreativen Räume Wien im Schnitt jährlich durch, rund 80 Prozent davon kommen aus dem Kunst- und Kulturbereich. Großen Raumbedarf gebe es aber auch in den Bereichen Bildung und Soziales und teilweise in der Startup-Szene.
Leerstand künstlerisch nutzen, das machen in Wien einige Initiativen, wie das Weisse Haus oder die Garage Grande. Der größte Vorteil: leistbarer Raum. Denn für temporäre Nutzung von leerstehenden Gebäuden oder Flächen zahlt man oft nur die Betriebskosten. So ist es auch bei der Kooperation von Never at Home mit der Bundesimmobiliengesellschaft, der Eigentümerin der Schule. “Ich glaube, dass leider viele Künstler*innen im Prekariat leben und immer auf der Suche sind, wo sie kurz oder mittelfristig unterkommen können”, sagt Altenriederer. Auch Corona treffe die Kunstszene hart, da Auftrittsmöglichkeiten wegfallen.
Wie groß der Bedarf an leistbarem Raum ist, zeigen Altenriederers Anekdoten. Einer der Künstler in der Schellinggasse sei aus seinem vorigen Atelier im Keller eines Lokals ausgezogen, weil seine Bilder zu schimmeln begonnen haben. Und auch eine Umfrage der IG Bildende Kunst zeigt, dass das Problem wohl nicht an den hohen Ansprüchen der Mieter*innen liegt: Ganz oben auf der Wunschliste für die Ausstattung des Raumes stehen Toiletten und Heizung.
Junge Kunst ins Zentrum rücken
Neben Toiletten und Heizung bekommt die Künstler*innen in der Schellinggasse ganze Klassenzimmer für sich. Wer ein Atelier mieten kann, entscheiden die Mitglieder von Never at Home: Künstler*innen schicken ihre Bewerbung samt Portfolio ein, dann wird abgestimmt. Eines der Ateliers teilt sich Haidy Darwish mit einem Kollegen. Sie studiert Kunstgeschichte und malt hier in einem Klassenzimmer. Sie ist schon von Beginn an in der Schellinggasse dabei – und eigentlich noch länger mit dem Gebäude verbunden: “Das Gebäude war mal meine Schule. Es freut mich, mich an diesem Ort in einem ganz anderen Kontext weiterzuentwickeln”, sagt sie. Für ihre Atelierhälfte zahlt sie 150 Euro Miete. “Alle Künstler*innen brauchen so etwas. Ich habe davor daheim gearbeitet und dann in einem anderen Atelier – man denkt viel größer, man hat viel mehr Ideen – auch durch den Platz, den man hat”, sagt Darwish.
Never at Home ist nicht nur ein Projekt zur Zwischennutzung von leeren Gebäuden. Es rückt auch junge, heimische Kunst ins Zentrum – wortwörtlich. “Es ist ein großer Need für junge Künstler*innen, einen Arbeitsort zu haben, der nicht irgendwo ist, sondern im Zentrum, wo wir eine große Visibility in der Stadt haben”, sagt Altenriederer. “Wir sind neben den großen Häusern wie der Staatsoper und der Albertina und beweisen mit unseren Veranstaltungen, dass auch junge Kunst Publikum anziehen kann – das ist ein gutes Lebenszeichen”, sagt Altenriederer.
Zwischennutzung nur Teil der Lösung
Leistbare Räume für nicht etablierte Künstler*innen gibt es normalerweise eher in der Peripherie als im Zentrum. Zwischennutzungen und Leerstandsaktivierung seien aber nur Teil der Lösung für Raumbedarf, heißt es von den Kreativen Räumen Wien. “Unser Eindruck ist: In Wien war Leerstand im internationalen Vergleich bislang kein Problem. Das eigentliche Thema ist der fehlende Raum für Kunst, Kultur, Bildung, Soziales oder auch Kreativwirtschaft”, sagt Katharina Egg von den KRW. Es gebe viele Ideen, wie man Räume sinnvoll nutzen kann, oft scheitere die Umsetzung aber an der Leistbarkeit. “Hier müssen Eigentümer*innen entgegenkommen und sich auch gegenüber neuen Nutzungsmodellen offen zeigen.”
Auch die Stadt Wien will sich diesem Problem verstärkt annehmen, heißt es von den KRW. Im neuen Stadtentwicklungsplan wird der Raumbedarf im Kunst- und Kulturbereich stärker berücksichtigt, neben den Kreativen Räumen gebe es auch weitere Initiativen für Zwischennutzungen und Leerstandsaktivierung, wie die Start-Ateliers oder Förderungen der Wirtschaftsagentur Wien.
Die Schule in der Schellinggasse ist die erste Zwischennutzung für Never at Home – es wird aber nicht die letzte bleiben. Denn nach Mai zieht die Initiative weiter. Wo genau es hingeht, ist noch nicht fix – vielleicht schafft es die Initiative dann ja den Spagat zwischen günstigen Räumen, niederschwelliger Kulturvermittlung – und fairer Bezahlung. Bisher schmeißen sie den Laden nämlich ehrenamtlich.
Neugierig geworden? Dann schaut auch mal bei der Garage Grande in Ottakring vorbei. Wo ihr in Wien zeitgenössische Kunst entdecken könnt, haben wir in einem eigenen Beitrag für euch zusammengefasst.