Ein Hauch Tirol mitten im Dschungel
Österreich hat ja einige Pionier*innen in die Welt entsandt: Falco, Christoph Waltz und Arnie nach Amerika. Und ein paar Dutzend Tiroler*innen in den peruanischen Urwald. Nein, hier handelt es sich nicht um die heimische Variante des Dschungelcamps, sondern um die wahrscheinlich hartnäckigste Reisegruppe der österreichischen Geschichte. Im Jahr 1859 sind eine Handvoll Tiroler*innen und Deutsche nach Pozuzo in Peru gekommen, um zu bleiben. Aber ist hier nach so langer Zeit überhaupt noch etwas übrig von der alten Heimat?
Am rauschenden Ufer des Huancabamba-Flusses, im saftigen Grün Perus, steht ein Schild: „Die einzige österreichisch-deutsche Kolonie der Welt“. Wahrscheinlich ruft das bei dem*der einen oder anderen Urwald-Tourist*in herbe Enttäuschung hervor: Dass im Fotoalbum vom Into-the-Wild-mäßigen Survival Trip plötzlich Fotos von Blaskapellen und Dirndl-Damen auftauchen, macht den aussteigermäßigen Individualurlaub irgendwie unauthentisch. „Eigenartig ist es schon, wenn man dort hinkommt und hört: ‚Griaß di, wie geht’s da?’“, erzählt Rudolf Heinz, Obmann des Tiroler Freundeskreises für Pozuzo.
Wie kamen Dirndl und Lederhose nach Peru?
Wieso hat aber der Ozean Lederhosen und Co. ausgerechnet in Peru angespült? Die peruanische Regierung plante damals eine Eisenbahnlinie durch den Urwald. Da das Gebiet dafür erst mal besiedelt werden musste, begrüßte Präsident Castilla die Einwanderung von Ackerbauern und Arbeitskräften. Der deutsche Forscher und Weltenbummler Damian von Schütz-Holzhausen trommelte 180 Tiroler*innen, 120 Rheinländer*innen und Bayer*innen zusammen, die die Nase voll von Industrialisierung und Schulden hatten und lieber in Übersee neu durchstarten wollten. Priester Joseph Egg aus Tirol führte die Truppe an, die am 20. März 1857 vom Antwerpener Hafen in Belgien ablegte. Nach strapaziöser Reise und vielen Rückschlägen kam die auf 156 Personen ausgedünnte Kolonist*innengruppe 1859 endlich im Tal von Pozuzo an. 1868 stießen weitere 250 Kolonist*innen dazu. Das Eisenbahnprojekt wurde aber nie realisiert.
Geblieben sind die Kolonist*innen aber doch. Und mit ihnen eine Art konserviertes österreichisches und deutsches Brauchtum des 19. Jahrhunderts. Das wird tourismustauglich jedes Jahr am 25. Juli gefeiert, am sogenannten „Kolonistentag“. „Das Brauchtum wird dort sehr gepflegt“, erklärt Rudolf Heinz hörbar stolz. Er besuchte die Pozuziner*innen als Obmann des Tiroler Freundeskreises für Pozuzo 2017 bereits zum fünften Mal. „Auch alte Tirolerlieder und bayrische Lieder werden immer noch gesungen.“
Strudel im Urwald
Auch wenn diese letzte Juliwoche jedes Jahr der absolute Höhepunkt der Traditionspolitur ist, gibt es im Alltag ebenfalls Hinweise auf die österreichisch-deutschen Wurzeln mancher Einwohner*innen. Wahrscheinlich am auffälligsten sind die vielen blonden Köpfe, die mitten in Lateinamerika durch die Straßen wandern. Neben der unüblichen Haarfarbe sind es aber vor allem einige heimische Schmankerln, die mit den Siedler*innen ihren Weg nach Peru gemacht haben. Eine Spezialität in Pozuzo ist zum Beispiel der Tiroler Apfelstrudel – allerdings ohne Äpfel.
Genaueres weiß Kultur- und Sozialanthropologin Ruth Haselmair-Gosch. Sie hat ihre Dissertation an der Uni Wien über die Pozuziner Kulinarik geschrieben: „In Pozuzo wachsen aufgrund der klimatischen Bedingungen keine Apfelbäume. Also hat man die Äpfel durch Bananen ersetzt.“ Generation für Generation ging die Erinnerung an das Apfel-Original verloren und der Bananenstrudel wurde zur traditionellen Nachspeise der Tiroles, also der Tiroler Pozuziner*innen. Auch die sogenannten Zukiachalan haben sich vom Tirol es 19. Jahrhunderts bis ins Pozuzo des 21. Jahrhunderts gehalten. Man könnte sie vielleicht am ehesten mit heimischen Bauernkrapfen vergleichen: „Das ist eine Art Krapfen mit einem Loch drin“, sagt die Expertin. „Die bekommt man hier sehr oft als Nachspeise.“
Der Dialekt hält sich hartnäckig
Die ältere Generation der Pozuziner*innen mit Tiroler Wurzeln spricht auch noch den alten Oberinntaler Dialekt aus der Zeit der Auswanderung, der natürlich auch durch Lehnwörter aus dem Peruanischen ein ganz eigener geworden ist. „Für mich ist der schon verständlich, weil ich ja auch aus dem Oberinntal komme“, sagt Heinz. „Man verwendet dort auch noch alte Wörter, wie zum Beispiel ‚Gimmerle’ für die Gurke.“
Allerdings hat man diesen Dialekt kaum an die jüngere Generation weitergegeben. Im Vergleich zu anderen, brutalen Kolonialisierungsvorgängen, wie zum Beispiel die Besiedelung Amerikas, ist diese Anpassung ja auch gut und richtig. „Die Leute haben sich von Anfang an vermischt. Es gab nie so etwas wie eine Abschottung der Kolonisten gegenüber der peruanischen Bevölkerung“, versichert Heinz. Vermehrte Deutschkurse und ein Austauschprogramm, bei dem junge Pozuziner*innen nach ihrem Schulabschluss saisonweise in Tiroler Tourismusbetrieben arbeiten können, sollen seit einigen Jahren die Geschichte wieder stärker in Erinnerung rufen.
Lange Isolation ohne Straße
Dennoch war Pozuzo über 100 Jahre lang stark isoliert. Erst 1976 wurde eine Verbindungsstraße gebaut, die die Kolonie an das Außennetz anschloss. Bis dahin waren Maultiere die Hauptbediensteten des öffentlichen Fernverkehrs. „Seit der Ankunft in Pozuzo gab es immer eine Verbindung nach außen über Maultierkolonnen“, erzählt Rudolf. Erst mit der Straße kamen öffentliche Verkehrsmittel, geschweige denn Elektrizität. „Da hat Tirol sehr mitgeholfen“, sagt Heinz weiter. „Ein Elektrizitätswerk wurde gebaut. Das war zwar anfangs eine halbe Sache, weil die Stromstärken nicht gepasst haben.“
Aber schließlich hat es offensichtlich funktioniert. Sonst hätten wir Yeraldina Martinez Kroll wohl kaum per Mail erreicht. Sie ist 1982 in Pozuzo geboren, betreibt eine Pizzeria namens „Wolfgang“ und arbeitet als Deutschlehrerin. Sie schreibt uns in fast perfektem Deutsch, dass die Straße zwar durchaus Vorteile für Pozuzo gebracht hat: „Es gibt dadurch eine bessere Auswahl an Medikamenten, Lebensmitteln, Büroartikel usw.“ Den Nachteil sieht sie allerdings darin, dass die Jugend zum Studieren nach Lima abwandert und beruflich nicht mehr nach Pozuzo zurückkehrt.
Tradition revisited
Was die Straße aber vor allem angekurbelt hat, ist den Tourismus und den besseren Kontakt mit der alten Heimat der Kolonist*innen. Seit 1983 steht der Tiroler Freundeskreis für Pozuzo in regem Austausch mit seinen peruanischen Spezis. Dadurch haben auch kulinarisch einige typisch österreichische Dinge im Nachhinein nach Peru gefunden, wie zum Beispiel das Wiener Schnitzel. Das darf offenbar an keinem Ort fehlen, an dem sich Österreicher*innen länger aufhalten – nicht einmal, wenn es nur eine Woche Lignano ist. Andrés Egg Gstir, der Ururenkel des Sherpa-Priesters Joseph Egg, der die erste Kolonist*innengruppe damals anführte, serviert in seinem Lokal Wiener Schnitzel, Fleischlaberl und Würstel.
Was aber noch wesentlich wirtshaustypischer und vor allem entspannender ist als ein voller Bauch, ist ein leichter Schwips. Die flammende Leidenschaft für Bier eint ja die Deutschen und die Österreicher*innen bekanntlich – sogar mitten im Urwald. Naheliegend also, dass man vor gut zehn Jahren anfing, eigenes Pozuziner Bier zu brauen – das Dörcher Bier. Ja, es heißt im Original tatsächlich „Bier“ und ist ein Pils. Und wo wir gerade bei Originalen sind: Durch den engeren Kontakt mit Tirol wurde man in Pozuzo übrigens auch darauf aufmerksam, dass der Bananenstrudel im Original eigentlich mit Äpfeln gefüllt ist. Dank Straße und besseren Lieferbedingungen heute ebenfalls kein Problem mehr.
Überzeugte Peruaner*innen
2007 kam die erste organisierte Reisegruppe aus Pozuzo nach Tirol. Rudolf Heinz erzählt, dass die Eindrücke für die peruanischen Besucher*innen sehr heftig gewesen sein müssen. „Sie haben hier das erste Mal Schnee gesehen oder Bäume ohne Laub.“ Auch Yeraldina Martinez Kroll schildert uns Ähnliches von ihrem Aufenthalt in Tirol im Jahr 2008: „Ich war von Jänner bis Februar hier. Das Wetter machte mir sehr zu schaffen, es war einfach zu kalt. Aber die Natur war schön.“ Die Pozuziner*innen pflegen zwar ihre Traditionen, sehen sich aber längst nicht mehr als Österreicher*innen oder Deutsche. „Sie sind überzeugte Peruaner“, sagt Rudolf. Nach drei Wochen „Österreichdröhnung“ seien seine Besucher*innen daher gerne wieder nach Pozuzo zurückgekehrt.
Für die volle Dröhnung Österreich müsst ihr aber nicht bis nach Peru fahren. Wir haben davon jede Menge Artikel für euch, wie zum Beispiel diese österreichischen Superlative, mit denen ihr garantiert nicht gerechnet hättet. Ihr wollt auf dem Laufenden bleiben? Dann registriert euch bei uns und folgt der Liste Unsere Reportagen für regelmäßige Updates.