Alternatives Wohnen: Die Suche nach dem Ponyhof
In europäischen Städten wird leistbarer Wohnraum knapp. In Wien-Simmering wollen sich rund 20 Menschen mit dem selbstverwalteten Wohnprojekt „Schlor“ von steigenden Miet- und Immobilienpreisen unabhängig machen. Hier zahlen alle, so viel sie können. Wir haben das Wohnhaus auf einem ehemaligen Zirkustrainingsgelände besucht.
Zwischen Mautner-Markhof-Fabrik und Fiaker-Stallungen wuseln Menschen über die Baustelle im Innenhof eines Grundstücks. Neben Europaletten, verpackten Holzbrettern, Heurigenbänken und -tischen mit Werkzeug stapeln sich hellgraue Pflastersteine. Der Boden zwischen den verschiedenen Gebäudeteilen wird verlegt. Orange Linien markieren, wo die Steine hinsollen, eine Person transportiert Steine mit einer Rodel. Auch an den heißen Augusttagen arbeiten einige der zukünftigen Bewohner*innen an ihrem Zuhause. Denn diesen Herbst ziehen hier, auf einem ehemaligen Zirkustrainingsgelände in Wien, mehr als 20 Menschen ein. Endlich.
In der Rappachgasse in Simmering entsteht das selbstverwaltete Kultur-, Werkstätten- und Wohnprojekt „Schlor – schöner leben für alle“. Dafür hat sich schon vor neun Jahren eine Gruppe zusammengetan, das Grundstück gekauft und so dem Markt entzogen, wie Schlor das Projekt auf der Website beschreibt. Auf dem Grundstück leben bald drei Wohngemeinschaften mit jeweils fünf Bewohner*innen, daneben gibt es noch eine kleine Wohnung für drei, außerdem Ateliers, eine große Trainingshalle und einen Kulturverein. All das verwaltet Schlor selbst, stets nach der Prämisse: für das Gemeinwohl, nicht für den Profit.
Wohnen ist politisch
Dieser Prämisse folgen am Wohnungsmarkt in europäischen Städten nur wenige. Wohnraum ist zur Spekulationsware geworden, die Investitionen in sozialen Wohnbau gingen in manchen Städten zurück. Die Bevölkerung in Städten wächst, aber oft fehlen genügend Neubauten. Kurzzeitvermietungen und die Tendenz zum Alleinewohnen vermindern das Angebot an Wohnungen noch einmal. 2022 gaben etwa 10 Prozent der Bevölkerung in der EU mehr als 40 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aus, zeigen Daten von Eurostat. Und nun heizt die Inflation das Problem weiter an. Selbstverwaltete Wohnprojekte, wie Schlor in Simmering, wollen da nicht mehr mitmachen.
„Es ist wichtig, dass es leistbares Wohnen gibt und dass Leute weniger Immobilien besitzen“, sagt Ines, eine der zukünftigen Schlor-Bewohner*innen. Sie hat ihre Haare in zwei Zöpfe gebunden, das ärmellose T-Shirt macht ihre Tattoos sichtbar. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Josefa, runde Brille, Stirnfransen, sitzt sie in der Teeküche jenes Trakts, der schon fertig ist: Seit einem Jahr töpfern, malen, drucken und fotografieren hier Künstler*innen in den vier Ateliers, die vermietet werden. Für die beiden 32-Jährigen hat das selbstverwaltete Wohnen mehrere Vorteile. „Oft ist man jetzt in einer befristeten Wohnung, wo man für fünf Jahre lange Mietverträge schon dankbar sein muss und man auch wenige Möglichkeiten auf andere Wohnformen hat“, sagt die Politikwissenschaftlerin Josefa. Bei Schlor könnten sich viele Menschen einbringen, selbst gestalten und es gebe eine große Gemeinschaft. Hier geht es aber um noch mehr: „Ich glaube, es braucht auf jeden Fall Orte, wo man einfach sein kann und weiß, man muss nicht weg – außer man führt sich irgendwie auf“, sagt Josefa. Wohnen hat hier gewissermaßen auch eine politische Komponente.
Dabei gilt Wien nicht unbedingt als hartes Pflaster, was den Wohnungsmarkt betrifft. Schlangen vor Wohnungsbesichtigungen – wie etwa in Berlin – gehören hier nicht zum Stadtbild. Im Gegenteil: Die Stadt ist europaweit für ihren sozialen Wohnbau und die dadurch vergleichsweise moderaten Mietpreise bekannt. Rund 60 Prozent der Wiener Bevölkerung lebt im geförderten Wohnbau. Eine Studie der Arbeiterkammer aus 2022 zeigt aber, dass in den vergangenen Jahren mehr als die Hälfte der Wohnungen ohne Fördermittel gebaut wurden. Das führe auch zu höheren Mietpreisen.
Und spätestens durch die steigende Inflation ist der Preisdruck am Wiener Immobilienmarkt spürbar: Erst im April dieses Jahres stiegen die Mietpreise im Gemeindebau wegen der hohen Inflation um 8,6 Prozent. Private Mietverträge sind meist an den Verbraucherpreisindex gekoppelt. Die Miete wird in der Regel dann erhöht, wenn eine vereinbarte Schwelle überschritten wird. Meist sind das drei oder fünf Prozent. Das war 2023 schon mehrmals der Fall.
Wer erbt, soll zahlen
Bei Schlor in Simmering werden die Mieten nicht mit dem Verbraucherpreisindex steigen. Ines, die beruflich im Sozialbereich arbeitet, töpfert auch in einem der Ateliers. Von ihrem Studio aus geht sie durch die Teeküche, hinaus auf die Terrasse, über die Stiegen hinunter und einmal durch den Innenhof – schon steht sie in ihrem WG-Zimmer. Für ein Zimmer, das zwischen 17 und 28 Quadratmeter groß ist, zahlen die Bewohner*innen zwischen 200 und 600 Euro. Dazu kommen eine große Wohnküche, ein WC und ein Badezimmer mit WC. Und auch die Gemeinschaftsbereiche wie die Werkstatt sind im Preis inkludiert.
Simmering zählt – auch am freien Markt – zu den günstigeren Wiener Bezirken. Quadratmeterpreise spielen im selbstverwalteten Wohnprojekt aber keine Rolle: „Wir haben uns ein solidarisches Mietmodell überlegt, wo wir darauf schauen, wer welche Möglichkeit hat, welche Mieten zu zahlen“, erklärt Ines. Grundgerüst für die Miete ist ein Finanzierungsplan. Der genaue Mietpreis hängt dann von anderen Kategorien ab: „Wie viel verdient jede Person zum Beispiel, kann die Person überhaupt arbeiten, wie ist der Vermögensbackground: Manche Leute haben geerbt, werden erben, das sind Sachen, die wir da auch mitgedacht haben.“ Dazu komme noch eine „Selbsteinschätzung“, ergänzt Ines: „Wie können wir miteinander so leben, dass wir nicht nur arbeiten müssen, um hohe Mieten zu zahlen. Sondern wie können wir da wohnen, sodass es sich ausgeht und wir das Geld reinkriegen, das wir brauchen, um die Direktkredite zurückzuzahlen.“ In einem Jahr wollen sie das solidarische Mietverfahren evaluieren und, falls nötig, anpassen.
Mit der gezahlten Miete zu Monatsbeginn ist die Arbeit aber nicht getan: Wer im selbstverwalteten Wohnprojekt in Simmering leben will, muss auch einiges an Zeit ins Projekt investieren: Das Kollektiv organisiert sich mittels Plena, Arbeitsgruppen, Klausuren. „Aber es ist schwierig, es mit einer genauen Stundenanzahl zu beziffern. Das variiert auch. Es gibt auch unterschiedliche Lebenswirklichkeiten, es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie man sich einbringen kann oder mag“, sagt Josefa.
Weil die Menschen hier nicht nur gemeinsam wohnen, sondern auch gemeinsam die Verwaltung stemmen, sollen neue Mitbewohner*innen ins Kollektiv passen. Ob die Gruppe homogen ist oder nicht, darüber lässt sich streiten. „Es ist eine sehr weiße Gruppe gerade, das ist auf jeden Fall, was man kritisieren kann und wir selber immer wieder mal hinterfragen“, sagt Ines. Alle Mitglieder kommen aus Österreich und Deutschland und sind zwischen Mitte 20 und Mitte 40. Die soziale Herkunft sei in der Gruppe aber durchaus unterschiedlich. Kinder ziehen vorerst nicht ein. „Aber es wäre jetzt kein Ausschlussgrund, wenn jetzt jemand schwanger oder Elternteil wird“, sagt Ines und lacht. Menschen mit Kindern wären schon einmal Teil des Kollektivs gewesen, durch die langen Bauverzögerungen während der Pandemie fehlte ihnen aber die Planungssicherheit.
Den „Wohnungsmarkt influencen“
Wer, wie Ines und Josefa, dabei geblieben ist, steht jetzt in einem zweistöckigen Haus mit hellem Holz und großen Fenstern. Unten sind Küche und Wohnraum, oben die Zimmer der fünf Bewohner*innen. Dass hier nicht Paare oder Familien einziehen, sondern Wohngemeinschaften, liegt daran, dass das Projekt aus einer WG heraus entstanden ist: Das Haus, in dem die WG der Gründer*innen gewohnt hat, sollte renoviert werden. Also wurden die Bewohner*innen aus ihrem unbefristeten Vertrag „rausgekauft“, erzählt Josefa. Anstatt sich nach einer neuen Wohnung umzusehen und das Geld aufzuteilen, habe sich die WG mit Freund*innen zusammengetan und es als Startkapital für Schlor genommen.
Nachdem sie das Grundstück in Simmering über Willhaben gefunden hatten, hieß es für Ines und ihre Kolleg*innen: Kreditgeber*innen sammeln. Oder, wie es Josefa ausdrückt, „den Wohnungsmarkt influencen“ und Leute über ihr Projekt informieren. Knapp eine Million Euro an Direktkrediten von Privatpersonen und einer Stiftung hat Schlor aufgestellt, allein um das Fleckchen Land zu kaufen. Ein Zimmer ist derzeit noch frei. Wer sich bewerben will, muss – anders als bei Genossenschaften – keinen Direktkredit oder eine Geldeinlage zahlen.
Im Grundbuch steht aber nicht nur Schlor, sondern auch das „Habitat“ ein Kollektiv, das selbstorganisierte Wohnprojekte in Österreich unterstützt. Das soll sicherstellen, dass sich nicht einzelne Personen an dem Grundstück bereichern können: „Das heißt, niemand von uns besitzt eine Wohnung, ein Zimmer, ein Grundstück. Wir mieten das alle. Das, was wir haben, ist Nutzungseigentum. Wir machen uns die Regeln damit, wir zahlen alle Miete, um die Direktkredite auch wieder zurückzuzahlen“, sagt Ines. Sind die Kredite erst einmal abbezahlt, zahle das Projekt einen Solidarbeitrag an das Habitat, um andere Projekte zu unterstützen.
Europäische Lösungen
Während Schlor das Ruder am Wohnungsmarkt selbst in die Hand genommen hat, arbeitet auch die Politik an Lösungen für Wohnungsnot und zu hohe Mieten. Österreich führt 2024 die Mietpreisbremse ein, die derzeit allerdings nicht für den freien Markt vorgesehen ist. Das geht Wien nicht weit genug: „Unsere Forderung ist die, dass die Mietpreisbremse auch im privaten Wohnraum gelten muss“, sagt Peter Florianschütz (SPÖ). Der Wiener Landtagsabgeordnete ist im Rahmen der Europäischen Woche der Regionen und Städte in Brüssel. Hier tauschen sich Regional-Politiker*innen über europäische Probleme aus. Eine schnelle und einfache Lösung für die steigenden Mietpreise gibt es nicht. Wien wolle mit Förderungen die Mieter*innen unterstützen. Darüber hinaus treffe man mehrere Maßnahmen, damit der Wohnraum leistbar bleibt: Die Stadt baue neue Gemeindewohnungen, fördere sozial Schwächere und verbreitere die Wohnbeihilfe. Nun hat die Stadt angekündigt, die Mieten im Gemeindebau zwei Jahre lang nicht zu erhöhen. Jetzt ist die Bundespolitik dran, findet die Stadt.
Blick nach Florenz
Doch eine „one size fits all“-Lösung macht in Europa wenig Sinn, denn nicht immer sind die Gründe für die hohen Mieten die gleichen. Wer im Sommer schon einmal in der italienischen Stadt Florenz war, hat das Bild vielleicht vor sich: Auf dem Weg vom Bahnhof zum Zentrum hört man ein monotones Rauschen der Rollköfferchen. Vor Sehenswürdigkeiten wie der Kathedrale Santa Maria del Fiore stehen meterlange Schlangen. Verschiedenste Sprachen schallen durch das historische Zentrum. Das Stadtzentrum verwandle sich in ein „großes Hotel“, findet Dario Nardella, Bürgermeister von Florenz, im Rahmen der EU-Woche der Regionen. Die Mieten seien seit dem vergangenen Jahr um 10 bis 15 Prozent gestiegen. Der Tourismusboom und die vielen Kurzzeitvermietungen hätten den Wohnungsmarkt und die soziale Situation stark beeinflusst. Deshalb hat die Stadt neue Kurzzeitunterkünfte wie Airbnbs im historischen Stadtzentrum verboten. In Wiener Gemeindebauten gilt ebenfalls ein Verbot für Airbnbs.
Blick nach Südspanien
Im Süden von Spanien sieht die Situation wieder ein wenig anders aus. Andalusien, vor allem die Costa del Sol, ist bei Tourist*innen ebenfalls beliebt. Gleichzeitig kämpft die Region aber mit Abwanderung. Eine halbe Stunde von der Stadt Estepona entfernt, gebe es zahlreiche leerstehende Häuser, beklagt Esteponas Bürgermeister José María García Urbano. „Die andalusische Regierung und viele Städte arbeiten daran, mehr freie Flächen für den Bau neuer Wohnungen zur Verfügung zu stellen“, sagt er. Ist das Bauland kostenlos, dann sind auch die Apartments billiger, lautet seine Rechnung. So will man die hohen Mieten in populären Regionen und die Abwanderung in ländlichen Gebieten in den Griff bekommen.
Zurück nach Simmering
In Simmering ist die Schlor-Baustelle mittlerweile zum Zuhause von Ines und Josefa geworden. Wer wissen will, wie das selbstverwaltete Wohnprojekt aussieht, kann zum Beispiel eine der Veranstaltungen des Kulturvereins besuchen. Und wer selbst ein Hausprojekt starten will, sollte Mut und einen langen Atem haben, raten Josefa und Ines. Ihren haben sie – beide seit mehr als fünf Jahren im Kollektiv – schon unter Beweis gestellt. Aber ob sie nun ein oder 25 Jahre hier wohnen wollen? Darauf wollen sie sich nicht festlegen.