Unser Senf: Wer postet, trägt Verantwortung
Weil ein bisschen Würze im Leben nie schaden kann, geben wir euch mit dieser Kolumne regelmäßig unseren Senf dazu: Wir erzählen euch, was uns beschäftigt, was uns nervt und was uns zum hysterischen Lachen bringt. Eure Käsekrainer könnt ihr zwar nicht darin eintunken, aber dafür ist unser Senf auch gratis. Dieses Mal geht es aus aktuellem Anlass um die Verantwortung, die wir alle für jene Inhalte tragen, die wir in sozialen Netzwerken verbreiten.
Als sich Montagnacht die Nachricht über den Großeinsatz der Polizei und die unübersichtliche Lage im 1. Bezirk verbreitete, ließen Videoaufnahmen von Augenzeugen und Gerüchte darüber, wo sich was abspielt, nicht lange auf sich warten. Sofort folgten Appelle der Polizei und der Medien, keine Gerüchte zu verbreiten und Fotos und Videos der Geschehnisse nicht in sozialen Netzwerken zu posten, sondern auf eine eigens dafür vorgesehene Plattform des Innenministeriums hochzuladen. Um die 20.000 Videos mit einer Gesamtdatenmenge von etwa einem Terabyte gingen dort im Endeffekt ein. (Zum Vergleich: Mit einem Terabyte mobilem Internet kann man rund 42 Tage durchgehend in höchster Qualität Netflix streamen.)
Dennoch kursierten reichlich Aufnahmen in den sozialen Medien und die Gerüchteküche hörte nur langsam auf zu brodeln. Durch eine Facebook-Funktion, die es Nutzern und Nutzerinnen in der Nähe eines Vorfalles erlaubt, sich über ein weitgehend unmoderiertes Forum auszutauschen, verbreiteten sich die erschreckenden Bilder besonders schnell. Es ist richtig und wichtig, Facebook und Co. dafür zu kritisieren, dass sie nach wie vor keine effektive Handhabe gegen die unkontrollierte Verbreitung von Inhalten entwickelt haben, die Gewalt zeigen, und es nicht schaffen, Falschinformationen gezielt auszubremsen. Die Verantwortung liegt aber auch jedem einzelnen Nutzer und jeder einzelnen Nutzerin.
Die Schwester der Freiheit heißt Verantwortung
Den klassischen Medien, Print, Radio und Fernsehen, wird traditionell eine sogenannte Gatekeeper-Rolle zugeschrieben. Sie sind die Schleuse zwischen den vielen Informationen, die in der Welt kursieren, und den Leserinnen, Hörern und Zusehenden. Diese Gatekeeper-Funktion gibt ihnen eine gewisse Macht darüber, welche Informationen an die breite Öffentlichkeit gelangen. Sie geht einher mit zwei Pflichten: Erstens, möglichst alle für die öffentliche Meinungsbildung notwendigen Informationen abzubilden und der Utopie von Objektivität so nah wie möglich zu kommen. Zweitens, die Auswirkungen der veröffentlichten Informationen zu bedenken und Verantwortung für ihre Berichterstattung zu übernehmen. Die Grenzen der Berichterstattung sind speziell im Medienrecht definiert. Weil Medien als sogenannte „vierte Staatsgewalt“ und Kontrollorgan für die Mächtigen möglichst frei bleiben sollen, wird das Medienrecht eher eng ausgelegt. Dafür kontrolliert sich die Presse selbst: In den meisten Ländern existieren ethische Grundsätze, die bei der Medienarbeit zu beachten sind und übers Recht hinausgehen. Überhaupt ist das Recht in einer Demokratie nur der kleinste gemeinsame Nenner des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Aber nur weil etwas legal ist, heißt das nicht, dass es keinen Schaden anrichten kann.
User und Userinnen werden zu Berichterstattenden
Auch in Österreich existiert ein Presseehrenkodex, der allerdings außerhalb der Medien-Bubble häufig nur entfernt oder gar kein Begriff ist. Dabei ist die breite Bevölkerung durch die sozialen Medien mittlerweile selbst zu Berichterstattern und Berichterstatterinnen geworden – man spricht von Bürger- oder Graswurzel-Journalismus –, während den Medien ihre Gatekeeper-Rolle ein gutes Stück weit abhanden gekommen ist. Diese Entwicklung bringt Chancen mit sich – die zahlreichen Videos, die wertvolle Informationen für die Ermittlungen geliefert haben, sind dafür ein gutes Beispiel –, kann aber auch problematisch oder sogar gefährlich werden. Medien sind an das Medienrecht gebunden, orientieren sich bei der Arbeit aus Überlebensinteresse weitgehend an den Richtlinien des Presseehrenkodex, setzen sich in der Regel mit den möglichen Auswirkungen ihrer Berichterstattung auseinander und auch Redaktionsstrukturen können zur Selbstkontrolle beitragen. Währenddessen kommt Anna Normalverbraucherin gar nicht in den Sinn, was sie mit dem Video anrichten kann, das sie schnell in die Story hochlädt oder an Freunde verschickt. Nicht nur, dass Videos und Fotos der Vorfälle im Akutfall den Einsatz oder Menschen vor Ort gefährden können, wenn Täter oder Täterinnen sie zu sehen bekommen. Sie können immensen emotionalen und psychischen Schaden anrichten, wenn Kinder oder Jugendliche übers Internet auf sie stoßen. Oder wenn Menschen sie zu sehen bekommen, die in den auf brutale Weise angegriffenen oder getöteten Opfern Familienangehörige, Freundinnen oder Bekannte erkennen.
Je größer die Öffentlichkeit, desto größer die Verantwortung
Nicht nur über die sozialen Medien kursierten Anfang der Woche erschreckende und problematische Bilder, die nicht jeder und jede zu sehen bekommen sollte. Die Onlineableger der Boulevard-Medien Österreich und Kronen Zeitung, oe24.at und krone.at, verbreiteten im Zuge ihrer Live-Berichterstattung Bilder davon, wie der Attentäter auf Menschen schoss und auch Aufnahmen eines blutenden Opfers – klare Tabus unter Qualitätsmedien und an der Grenze zum Rechtsverstoß. Binnen kürzester Zeit gingen beim österreichischen Presserat Hunderte Beschwerden gegen die beiden Medien ein. Bis Mittwochvormittag waren es 1.450 – so viele, wie noch nie in irgendeinem Anlassfall. Mehrere Werbepartner haben daraufhin angekündigt, bis auf Weiteres keine Anzeigen mehr auf den Plattformen zu schalten. Der Presseclub Concordia, die Journalistengewerkschaft und eine im Netz kursierende Petition – Letztere richtet sich speziell gegen oe24.tv – fordern, dass Medienunternehmen als Konsequenz unethischer Berichterstattung keine Steuergelder mehr in Form von Förderungen oder Inseraten erhalten sollen. Während es also gegen Medien, die für den eigenen Profit unethisch oder ungesetzlich berichten, eine gewisse Handhabe gibt, gilt das für reguläre User und Userinnen nicht – zumindest nicht im selben Ausmaß. Die Freiheit jener, die nur bedingt in der Öffentlichkeit stehen, geht weiter als jene derer, die an der öffentlichen Meinungsbildung einen wesentlichen Anteil haben. Das ist grundrechtlich gedeckt. Aber weil sich Informationen über soziale Medien durch Algorithmen und den Schneeballeffekt von Gruppenchats und Ähnlichem in einem nicht abschätzbaren Ausmaß verbreiten, muss jeder User sein und jede Userin ihr eigenes Kontrollorgan sein.
Zuerst reflektieren und dann vielleicht besser nicht posten
Wer also über soziale Medien Informationen verbreitet und somit einer potentiell sehr breiten Öffentlichkeit zugänglich macht, trägt Verantwortung. Der Presseehrenkodex kann ein wichtiges Instrument zur Reflexion und Bewusstseinsbildung sein, nicht nur für Menschen, die in den klassischen Medien tätig sind, sondern für alle, die in den sozialen Medien aktiv sind. Das Bedürfnis, sich mit anderen über schreckliche Geschehnisse auszutauschen ist zutiefst menschlich. Wer noch nie in einer emotionalen Situation voreilig etwas gepostet oder verbreitet hat, werfe das erste Smartphone. Florian Klenk etwa, der Chefredakteur der Wochenzeitung Falter, verbreitete in der Nacht des Anschlags live in der ZiB-Spezial ein Gerücht. Er hat sich mittlerweile öffentlich dafür entschuldigt. Dass die Debatte darum, was man posten soll und was nicht, keineswegs eine ist, die Schwarz und Weiß, sondern Abwägungssache ist, beweist der Umstand, dass ein Augenzeugenvideo uns jenen Ausdruck beschert hat, der zur wunderschön wienerischen Antwort gegen den Terror geworden ist: „Schleich di, du Oaschloch!“
Unsere „Wir sind alle Wien“-Illustration, die wir nach dem Anschlag gestaltet haben, steht für euch zum freien Download zur Verfügung. Auf welche Weise Wien dem Hass sonst noch die Stirn bietet, lest ihr am Blog.