Unser Senf: Warum der erste Schnee in Wien immer der schönste ist
„Großvater, Großvater, es hat geschneeeit!“, sagte schon der Kasperl. Und wir können’s auch endlich sagen. Seit heute Vormittag rieselt der Schnee leise auf Wien nieder. Da müssen wir natürlich unseren Senf dazugeben: Unsere Redakteurin erzählt, was der erste Schnee in Wien jedes Jahr aufs Neue in ihr auslöst.
Es ist wieder mal so weit: Wien versinkt im Schneechaos! Das ist natürlich angesichts der spärlichen Schneemenge, die vom Himmel tanzt, maßlos übertrieben – schon klar. Dem Rest Österreichs würde die wahrscheinlich nicht mehr als ein müdes Lächeln abringen. Aber egal wie zaghaft Frau Holles Praktikant das Polster schüttelt – in Wien ist der erste Schnee immer wieder aufregend. Denn es gibt in der Regel zwei Arten von Wiener*innen: die einen, die schon nach der ersten Flocke eine Instagram-Story vom Schneefall über der Stadt posten, mit Herzchen-GIFs und viel zu offensichtlichen Feststellungen wie: „Es schneit!“ Und die anderen, die angepisst das Gesicht verziehen beim bloßen Gedanken an das Verkehrschaos, das Wien jedes Jahr beim ersten Schnee heimsucht wie die Geister das alte Haus von Rocky Docky.
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Anfängliche Schnee-Euphorie
Tendenziell zähle ich mich eher zum ersten Typ. Ich überflute zwar nicht meine sämtlichen Social-Media-Kanäle mit überflüssigem Schnee-Content, freue mich aber doch jedes Jahr wieder unverhältnismäßig stark über die ersten weißen Flocken. Unverhältnismäßig deshalb, weil ich mich sonst im Allgemeinen nicht als besonders sentimentalen Menschen betrachte. Aber beim Schnee hört sich offenbar jede Ratio auf. Aufgeregt bin ich heute Morgen ans Fenster gehüpft und habe erst einmal zufriedenem Schnee beim Fallen zugesehen, mit leicht geöffnetem Mund und mit einem Level an Verklärung im Blick, den sonst nur Sektenmitglieder*innen draufhaben. Weird. Aber schön. Der erste Schnee ist eines der wenigen Dinge, die bei mir nach wie vor ungefähr dieselbe Intensität an Euphorie hervorrufen wie sie es in Kindertagen vermochten. Weihnachten? Meh. Ostern? Meh. Geburtstag? Meh. Aber erster Schnee? Innere Eskalation!
Denn der Schnee markiert, dass jetzt eine neue Zeit anbricht. Eine Zeit, in der es wieder okay ist, sich bereits um 17 Uhr mit Kuschelsocken und Tee von der Außenwelt abzuschotten. In der man plötzlich wieder überall den Duft von Zimt und Mandarinen riecht und in der Punsch trinken sich endlich wieder richtig anfühlt – nicht wie noch vor einer Woche, als ich mir bei meinem ersten Punsch to go die Haube vom Kopf geschwitzt habe. Da können die Einkaufsstraßen noch so feierlich ihre Weihnachtsbeleuchtung einschalten. Wirklich weihnachtlich wird’s eben erst dann, wenn der erste Schnee gefallen ist. Und das, obwohl wir hier in den vergangenen Jahren so weit weg von weißen Weihnachten waren wie der Osterhase vom Nordpol. Aber der Schnee sagt uns eben: Heizt die Kamine an, holt die Flanell-Pyjamas raus, rührt den Keksteig um – jetzt wird’s gmiadlich.
Kommt der Schnee runter, komm‘ ich runter
Obwohl Wien sich bekanntlich bei der ersten Schneeflocke schon im Ausnahmezustand befindet, beruhigt mich der erste Schneefall irgendwie. Und gleichzeitig wirkt auch Wien irgendwie beruhigt, verlangsamt – wie verzaubert. Ich kuschle an der Straßenstation meine niedlich gerötete Nase genüsslich in meinen überdimensionalen Schal und seufze kitschig, während Autofahrer*innen bei Tempo 20 um die Wette hupen und die Öffi-Passagier*innen wüst über die bereits zehn Minuten verspätete Straßenbahn schimpfen. Mir ist’s wurscht, ich bin in meinem persönlichen, angesichts der Mini-Flocken etwas armseligen, Winterwunderland. Noch.
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Vom Wintermärchen zum Gatschgrind
Wie jedes Jahr wird auch heuer meine Schnee-Euphorie bereits in wenigen Stunden in grummelige Missgunst umschlagen, ja am folgenden Tag bereits in blinden Hass. Da ist sie wieder, die urtypische Wienerin mit dem hohen Grant-Potenzial, denke ich mir jedes Jahr erleichtert, wenn ich wieder zu Sinnen komme und aus meinem in Kakao und Herzchen getränkten Winterwunder-Trip auftauche. Denn bereits jetzt, während ich diesen Artikel schreibe, habe ich mich insgeheim schon wieder satt gesehen an dem penetrant unbeschwert tänzelnden Schnee vor dem Fenster. Als würde er mir unter die Nase reiben wollen, dass es kalt ist. Danke, Schnee, meine gefrorenen Füße haben’s mir inzwischen mitgeteilt.
Wenn ich dann am späten Nachmittag von meinem Lockdown-Spaziergang nach Hause komme, ohrfeigt mich endgültig die Realität. Weil ich vergessen habe, die Heizung hochzudrehen, wird nichts aus der romantischen Kuschelstunde mit Tee und Plüschsocken vor dem Fernseher, wie ich sie mir heute Früh noch dumm-glücklich ausgemalt habe, während ich den allgemeinen Grant auf den Straßen belächelt habe. Sie weicht minutenlangem Schlottern unter zwei Decken. Am Abend macht mich der Schnee, der immer noch unerbittlich vom Himmel fällt, schließlich nervös: Wird er jemals wieder aufhören zu fallen? Was ist, wenn er uns sukzessive, still und heimlich unter sich begräbt? Dass Wien bei dem aktuellen Schneeaufkommen wahrscheinlich erst im übernächsten Jahr bis zu den Dächern begraben wäre, ist nebensächlich.
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Schneemann-Innereien auf der Straße
Am nächsten Morgen fällt er schon nicht mehr. Aber er liegt. Und weil er da so liegt und nicht gleich wieder schmilzt, sieht die ganze Stadt plötzlich viel grauer und schmutziger aus als sonst. Nichts ist mehr mit Winterwunderland, nichts mehr mit Entschleunigung. Nur mehr klirrende Kälte und Gatsch. Überall. An manchen Stellen sieht der graue Schnee fast aus, als würde all der Grind, der unter der Stadt liegt, an die Oberfläche quillen. Vielleicht erinnert mich der langsam vor sich hinrottende Schnee ja an meine eigene Vergänglichkeit. Wie Schneemänner, die Tag für Tag ein bisschen weniger niedlich aussehen, bis sie schließlich wirken wie das surreal hässliche Requisit eines Horrorfilms, das mitten im Garten steht und mit ausgemergelten Ast-Händen winkt: „Komm raus zum Spielen, Freddie!“
So schnell hat der Schnee in der Großstadt seinen Zauber also für mich verloren. Auch jeder Schnee, der jetzt noch folgt, kommt nicht mehr an die anfänglichen euphorischen Stunden nach den allerersten Flocken heran. Denn immer wird er mich daran erinnern, dass er bereits ein paar Stunden später aussehen wird, als hätte sich ein verendender Schneemann in seinem letzten Atemzug quer über die ganze Stadt übergeben. Eklig. Um dieses Bild aus dem Kopf zu kriegen, brauche ich den ganzen Sommer. Dann kann ich mich im nächsten Winter wieder über den Schnee in Wien freuen. Zumindest für ein paar Stunden. Yay.
Auch unser Stadtkind und unser Landkind haben da ganz unterschiedliche Ansichten zum ersten Schneefall. Außerdem versorgen wir euch mit jeder Menge Tipps während des Lockdowns.