Unser Senf: Warum ich gerne durch den Zentralfriedhof spaziere
Weil ein bisschen Würze im Leben nie schaden kann, geben wir euch mit dieser Kolumne regelmäßig unseren Senf dazu: Wir erzählen euch, was uns beschäftigt, was uns nervt und was uns zum hysterischen Lachen bringt. Eure Käsekrainer könnt ihr zwar nicht darin eintunken, aber dafür ist unser Senf auch gratis. Dieses Mal erzählt unsere Redakteurin, warum sie gerne am Zentralfriedhof spazieren geht. Nicht nur zu Allerheiligen.
Ich bin in Simmering aufgewachsen und auch ein Vierteljahrhundert später noch irgendwie hier verwurzelt. Für viele ist das ziemlich verwunderlich angesichts der Tatsache, dass man Simmering wahrscheinlich im Makler-Jargon eher als „aufstrebendes Viertel“ bezeichnen würde. Trotzdem empfinde ich eine eigenartige, vielleicht etwas ungesunde Liebe zu Simmering. So etwas wie ein Bobo-Viertel gibt’s hier zwar nicht. Aber dafür heißt hier auch Haferschleim immer noch nicht Porridge. Hat was. Während die feinen Herrschaften innerhalb des Gürtels ihre Babys in Tragetücher wickeln und ihre Jutebeutel nach ökologischer Abbaubarkeit sortieren, sitzt man hier mit schwieligen Händen im Stammbeisl. Na gut, das klischeehafte Narrativ des kleinen Mannes ist natürlich maßlos übertrieben. Ich zum Beispiel habe weder schwielige Hände noch ein Stammbeisl, und klein bin ich auch nicht. Oder ein Mann. Aber ihr wisst schon, worauf ich hinaus will.
Der Zentralfriedhof, das Wahrzeichen
Und so trist, wie sich viele den 11. Bezirk vorstellen, ist es hier keineswegs. Immerhin haben wir den Zentralfriedhof. Okay, trist ist das schon. Aber mit voller Absicht. Mit 2,5 Quadratkilometern beherbergt Simmering damit sogar eine der größten tristen Flächen Europas. Mach’ das mal nach, Hietzing! Und wenn man so nahe dem Friedhof aufgewachsen ist wie ich, ist es nur verständlich, dass das Simmeringer Wahrzeichen das Ziel so mancher nachmittäglicher Familienausflüge war. Seit meiner Kindheit sind wir sonntags immer mal wieder zum Zentralfriedhof gepilgert, um Eichkätzchen zu füttern, Kastanien zu sammeln oder einfach bloß in der Sonne spazieren zu gehen. Dass hier ein Haufen Verstorbene begraben liegt, ist zwar morbid, aber was soll’s: Der Wiener ist ja angeblich ein morbider Hawara, und nirgends sitzt der Holzpyjama so gut wie in Wien.
Einzigartige Stille
Viele meiner nicht-simmeringerischen Freund*innen schockiert das ein wenig. „Ihr geht auf den Friedhof? Zum Spaß?“ Nein, natürlich nicht zum Spaß. Zum Entspannen, verdammt noch mal! Das ist ein Riesenunterschied. Spaß am Friedhof würde bedeuten, dass wir ausgelassen zwischen den Gräbern hin- und hertollen. Das tun wir natürlich nicht, wir sind ja nicht gänzlich morbide. Nein, der Zentralfriedhof strahlt eine eigenartige Ruhe aus. Vielleicht liegt es an der andächtigen Stimmung hier oder an der Tatsache, dass der Tod doch eine drastische Endgültigkeit mit sich bringt – hier schweigt jedenfalls alles. Aber nicht unangenehm und betreten wie zwei Nachbar*innen, die sich das erste Mal im Aufzug begegnen. Sondern friedlich. Es hat schon seinen Sinn, dass es heißt: „Ruhe in Frieden“. Und selbst, wenn eine*r nicht in Frieden ruht, könnte er*sie das nur schwer aus dem Grab heraus kundtun. Hier liegen so viele Identitäten und ihre Geschichten, die sich bei manchen eigenwilligen Grabsteinen und ihren Aufschriften fast aufdrängen.
Im Sommer niedlich, im Winter gruselig
Im Sommer gingen wir hier bevorzugt die „Hansis“ füttern. Als Kind habe ich verdammt lange gebraucht, und zu überreißen, dass nicht bloß ein einziges Eichhorn mit dem Namen Hansi den Zentralfriedhof bewohnt, sondern die Wiener*innen alle seine Artgenossen kreativer Weise Hansi nennen. Im Herbst und Winter hingegen zieht es mich stärker zum alten jüdischen Teil des Friedhofs. Wenn sich der Nebel über die verfallenen, mit Efeu bewachsenen Grabsteine legt, ist das schon eine ganz eigene Stimmung. Mystisch. Bedrohlich. Gruselig. So wie es sich für die kalte Jahreszeit eben gehört. Wenn man sich zu dieser Zeit in diesem Trakt des Friedhofs allerdings verlaufen und einen ganzen Nachmittag verzweifelt nach dem Ausgang gesucht hat, wirken mit der Zeit sogar die süßen Hansis irgendwie feindselig. Paranoia-Fantasien machen sogar bei Eichhörnchen keine Ausnahme. Ich spreche aus Erfahrung. Leider nicht aus einmaliger.
Schwarze Messen?
Raus kommt man aber immer irgendwie. (Es sei denn, man gehört zu den dauerhaften Bewohner*innen, versteht sich.) Auch wenn mit Einbruch der Dunkelheit der Friedhof seine Pforten schließt. Das hat allerdings nichts mit der Befürchtung zu tun, die Toten könnten doch noch einen letzten Fluchtversuch wagen. Nein, in Simmering geht das Gerücht um, dass früher einige Pfadfinder*innen, die auf die dunkle Seite der Macht gewechselt waren, schwarze Messen am Zentralfriedhof abgehalten und angeblich sogar Kleintiere geopfert haben. Darüber ist die Hansi-Community bis heute noch nicht hinweggekommen. Vielleicht war ihre Feindseligkeit also doch keine Einbildung.
Zentralfriedhof bei Nacht
Weil sie unbedingt wissen wollten, wie es zu Allerheiligen hier bei Nacht aussieht, wenn die Grablichter alle brennen, haben es ein paar Freund*innen von mir vor vielen Jahren dennoch geschafft, nachts durch den Zentralfriedhof zu geistern. Ich war natürlich nicht dabei, hust hust. Sie ließen sich jedenfalls einsperren – das ist die offizielle Variante. Die inoffizielle Variante: Sie sind eingestiegen. Zunächst bot sich ihnen ein erstaunliches Bild: Der dunkle Friedhof lag vor ihnen, getaucht in ein leichtes rötliches Schimmern. Auf wirklich fast jedem Grab schien eine Kerze. Doch je länger sie so dahinspazierten, desto mulmiger wurde ihnen.
Feels like Zombieapokalypse
Besonders eine von ihnen, nennen wir sie einfach mal Trudl, musste beunruhigend oft an ihren Überlebensplan für eine eventuell hereinbrechende Zombie-Apokalypse denken, den sie vor Jahren während „Dawn of the Dead“ geschmiedet hatte. Natürlich war Trudl im Grunde ja klar, dass nicht plötzlich eine verweste Hand aus einem Grab fahren und sie am Knöchel packen würde. Aber als sich in der Ferne langsam eine Gestalt abzeichnete, die auf die ungewöhnliche Exkursionstruppe zukam, schlotterten ihnen allen im Kollektiv die Knie. Gut, das war wahrscheinlich nur der Nachtwächter. Aber würdet ihr es drauf ankommen lassen, nachts, auf einem Friedhof?
Ein Ort für alle
Sicherheitshalber brachen meine Freund*innen ihr kleines Abenteuer schlagartig ab und hievten sich flugs über den Zaun, über den sie gekommen waren. Manchmal fragt sich Trudl noch heute, wie das Ganze wohl für den Nachtwächter ausgesehen haben muss: Sechs dunkle Gestalten, die zuerst langsam über den Friedhof schlendern, ihn erblicken und dann ertappt in der Dunkelheit verschwinden. Eindringlinge? Oder vielleicht doch auferstandene Anrainer?
Ob Zombie-Apokalypse oder nicht: Der Zentralfriedhof ist ein Ort, den sich die Lebenden und die Toten wie selbstverständlich teilen – natürlich immer respektvoll und ohne die Verstorbenen um ihre letzte Ruhe zu bringen. Und die bleiben wiederum mit jedem*jeder Besucher*in, der*die an ihrem Grab Halt macht und ihren Namen liest, im Gedächtnis. Nicht nur zu Allerheiligen.
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