Unser Senf: Warum Silvester der überbewertetste Abend des Jahres ist
Weil ein bisschen Würze im Leben nie schaden kann, geben wir euch mit dieser Kolumne regelmäßig unseren Senf dazu: Wir erzählen euch, was uns beschäftigt, was uns nervt und was uns zum hysterischen Lachen bringt. Eure Käsekrainer könnt ihr zwar nicht darin eintunken, aber dafür ist unser Senf auch gratis. Dieses Mal rechnet unsere Redakteurin mit erzwungener guter Laune, sauteuren Clubs und Menschenmassen ab. Ganz genau, es geht um Silvester.
Na super, wieder ist ein Jahr um. Und wieder stellen sich mir die Zehennägel bei dem Gedanken an Silvester auf. Bei all dem Weihnachtsstress hatte ich weder die Zeit noch die Muße, mich auch noch mit so etwas Leidigem wie dem Jahreswechsel auseinanderzusetzen. Soll ich dankbar für das alte Jahr sein? Oder doch meinen ganz persönlichen, esoterischen Neuanfang als besserer Mensch einläuten? Am liebsten würde ich am 31. Dezember mit Fisch-Biskotten auf dem Bauch und Gleichgültigkeit im Herzen auf der Couch liegen und das alte Jahr mit einem leichten, kühlen Kopfnicken verabschieden. Aber irgendwie geht das nicht. Irgendwie ist der 31. der einzige Tag im Jahr, an dem meine Couch kein Hort der Gemütlichkeit wäre, sondern ein Fort des sozialen Versagens.
Denn irgendwer hat uns erfolgreich eingeimpft, dass es genau an diesem einen Abend im Jahr plötzlich zählt, wie wir ihn verbringen. Ja, er steht quasi rückwirkend für unser gesamtes Sozialleben im vergangenen Jahr. Er wiegt jedes Daheimbleiben weil „Mich zaht’s nicht“, jedes Absagen weil „Ich bin schon im Pyjama“ der vergangenen Monate magisch auf. Dieser eine Abend muss besonders werden. Aber warum eigentlich? Weil wir sonst unser Jahr zu unspektakulär beenden? Weil wir dann das Gefühl hätten, wir haben’s durch Arbeit und Alltag gekillt, das wilde Party Animal in uns? Oder vielleicht, weil wir einen grundmenschlichen Drang nach Abschlüssen haben?
Bankrott ins neue Jahr
Warum auch immer: Das Lechzen nach glitzernder, freudensprühender Besonderheit einmal im Jahr könnte der Gastro nicht gelegener kommen. Ob 30 Euro Eintritt in so manchen Clubs oder horrende Punsch-Preise am Silvesterpfad – was ist schon ein kleiner Privatkonkurs im neuen Jahr, wenn man dafür das Ende des alten standesgemäß mit Pomp und Trara befeiert hat? Unbequeme Menschenmassen und unfreiwilliges Gruppenkuscheln gibt’s übrigens gratis dazu. Sowohl im Club als auch auf dem Silvesterpfad, bei dem sich schon am Nachmittag des 31. Tausende Wiener*innen und Tourist*innen gegenseitig durch die engen Gassen der Hauptstadt schieben, als wären sie zu einem einzigen lärmenden, betrunkenen, schubsenden Brei konglomeriert.
Meine Wiener Gang und ich sind weder ambitionierte Gruppenkuschelnde noch diejenigen, die gerne mal „die Fuffis im Club schmeißen“ – im Gegenteil: Wir würden sie eher aufsammeln. Daher stehen wir jedes Jahr vor dem gleichen Dilemma: Wohin zu Silvester? Und weil wir dieses Jahr sogar schon im August viel zu spät dran waren, um uns eine nette Hütte in den Bergen zu reservieren, bleibt uns auch heuer nichts anderes übrig als die alljährliche Homeparty.
Trotzkopf mit Sektfahne
Jedes Jahr wird gelacht, jedes Jahr wird getrunken. Und dann ist es auch schon – oh, erst 21 Uhr. Na dann – erst mal zähneknirschend weiterlachen, weitertrinken. Da muss man zu Silvester eben durch. Versteht mich nicht falsch: An jedem anderen Abend könnte ich stundenlang ausgelassen mit meinen Lieben feiern und habe auch nichts gegen einen gepflegten Rausch und eine rappelvolle Tanzfläche im Club. Aber immer, wenn es allgemein erwartet wird, dass man gut drauf ist, stellt sich bei mir der präpubertäre Trotz ein. Egal, wie viele Motivationsreden ich meinem Spiegelbild vor der Silvesterparty entgegenplärre: Ich weiß, ich werde weder übertrieben gut gelaunt sein, noch werde ich die Nacht zum Tag machen können. Prompt, wenn man das von mir erwartet, werde ich um 23 Uhr müde und introvertiert. Das ist wie mit den Kindervorstellungen der Ballettgruppe, wenn man bei jeder einzelnen Probe ohne Probleme über die Bühne trippelt. Doch dann geht der Vorhang auf, die Mama sitzt im Publikum und schon stolpert man über die eigenen Füße und reißt die anderen Mini-Ballerinas am Tutu domino-mäßig mit ins Verderben. Dieser verdammte Druck!
Doch endlich: Noch ein paar laut gebrüllten Sekunden ist er endlich da, der allseits ersehnte Neuanfang. Jetzt starten wir alle neu durch. Während sich die einen schon über ihre niemals eingehaltenen Neujahrsvorsätze unterhalten, versuchen die anderen verbissen, durchs belegte Netz ihre Familie anzurufen, nur um der Oma „Happy New Year!“ ins Telefon zu lallen. Manche schenken sich skurrile Glücksbringer-Figuren, von denen jeder weiß, dass man sie entweder am nächsten Tag entsorgen oder Monate später in der Manteltasche finden wird. Wieder andere liegen sich mit tränenden Augen in den Armen: „Ich wünsch‘ dir ein frohes Neues!“ Ein kurzes Drücken, ein Rückenreiben. Die Sentimentalität hängt in der Luft wie der Rauch der Böller. Andauern wird sie maximal bis zum nächsten Morgen. Übrigens genauso lange, wie sich der ominöse Neuanfang hält, den offenbar jeder so dringend nötig hat. Als könnte man nicht jederzeit neu anfangen. Und womit überhaupt?
Silvester oder Totentanz?
Und sind ein Mordskater und ein Speibkübel in den Armen am nächsten Tag wirklich die besten Voraussetzungen für einen Neustart? Darüber grübelt keiner. Immerhin befindet sich am 1. Jänner ja das ganze Land in einer gehörigen „Restfett’n“. Kollektives Ausnüchtern quasi. Und einmal im Jahr ist das anscheinend plötzlich okay. An diesem einen Tag fragen dich deine Eltern nicht, ob du eine Lebenskrise durchmachst, wenn du restbetrunken zum Familienessen aufkreuzt. Nein, ausgerechnet am ersten Tag im Jahr nicken sie dir verständnisvoll, fast anerkennend zu und scherzen sogar übers „Reparaturseidl“. Leiwand.
Damit haben wir also endlich das leidige alte Jahr endgültig in die Fotoalben und Archiv-Berichte abgestellt und reißen hundeelend ein neues an. Denn neu ist ja immer besser. Oder? Aber jedes Jahr wird mir zwischen Sekt-Melancholie und Reparaturseidl-Nirwana deutlicher bewusst, dass uns irgendwann die Neuanfänge ausgehen. Vielleicht bin ich deshalb so ein Silvester-Muffel, weil mich Silvester mit jedem Jahr stärker an meine Sterblichkeit erinnert. Steht hinter Silvester und dem Feiern des Jahreswechsels vielleicht etwas viel Düstereres? Ein Jahr Lebenszeit, die um ist. Ein Jahr unserer Zeit hier auf Erden, die uns auch das folgende Jahr nicht zurückgeben kann, im Gegenteil. Zehn, neun, acht – die Zeit läuft ab, und wir zählen sie auch noch aufgeregt herunter. Feiern quasi betäubt von Tröten und Feuerwerk unseren stetigen, unaufhaltbaren Verfall. Mit Pauken und Trompeten direkt zu aufs totenstille Dunkel. Wobei: Wenigstens gibt es dort auch keine Silvesterpartys mehr. Drei, zwei, eins – Prosit Neujahr!