Unser Senf: Warum Wien wirklich die lebenswerteste Stadt der Welt ist
Weil ein bisschen Würze im Leben nie schaden kann, geben wir euch mit dieser Kolumne regelmäßig unseren Senf dazu: Wir erzählen euch, was uns beschäftigt, was uns nervt und was uns zum hysterischen Lachen bringt. Eure Käsekrainer könnt ihr zwar nicht darin eintunken, aber dafür ist unser Senf auch gratis. Dieses Mal haben wir uns überlegt, was Wien für uns wirklich zur lebenswertesten Stadt macht.
„Du bist so schön.“ „Ach geh, hör auf.“ „Nein wirklich, du bist wunderschön.“ „Findest wirklich?“ „Ja sicher, so schön, wie du bist.“ „Danke, ich weiß eh.“ Und schon hat man jemanden vom bescheidenen Mitmenschen zum Arroganzbolzen gepusht. Das ist eben die Gefahr von Komplimenten, die man zu oft hört: Irgendwann glaubt man sie. Auch Wien wird immer wieder Honig ums grantverzerrte Maul geschmiert.
Der Economist hat die österreichische Hauptstadt – nach einer pandemiebedingten Pause – 2022 wieder zur lebenswertesten Stadt gekürt, Mercer tat dies vor der Pandemie schon zehn Mal. Da könnte man schon langsam eingebildet werden. Wobei: Wenn’s stimmt, ist es ja keine Einbildung, oder? Weil sich die Lebensqualität in Wien nicht nur an objektiven Parametern zeigt, haben wir uns mal ein paar Gründe überlegt, aus denen der österreichische Wasserkopf für uns ganz persönlich so lebenswert ist.
Weil man beim Wiener Schnitzel keinen Schmäh versteht
So viel Hamour man den Wiener*innen auch zuschreibt, so schmähstad sind sie, wenn’s um ihr Schnitzel geht. Denn da braucht man gar nicht erst glauben, dass man ihnen ein paniertes Henderl oder Schweinderl als klassische Wiener Frittierspeise vormachen kann. Das Wiener Schnitzel ist vom Kalb, da fährt die Eisenbahn drüber. Hier hat man bitt’schön noch Prinzipien.
Weil die zweite Kassa erst auf Zuruf geöffnet wird
Aber Wien ist nicht nur kulinarisch rigoros, sondern auch serviceorientiert. Wo in anderen Weltstädten längst die Selbstbedienungskassen regieren, stehen hier in vielen Supermärkten nach wie vor die Bedürfnisse der Kund*innen im Vordergrund. Nicht umsonst ruft spätestens ab einer Warteschlange von drei Leuten eine ältere Dame voller Zivilcourage: „Zweite Kassa, bitte!“ Das Bitte ist natürlich weniger Höflichkeitsfloskel als vielmehr Ausdruck der Dringlichkeit. Und prompt öffnet sich auch schon eine weitere Kassa. Dienstplanänderung auf Zuruf – wo hat man das sonst, wenn nicht in Wien?
Weil es keinem auffällt, wenn man schlecht drauf ist
Szenen wie jene an der Supermarktkassa sind natürlich Wasser auf den Klischee-Mühlen: Die Wiener*innen sind grantig, sagt man. Das besagt auch das Expats City Ranking 2021. Wir sagen: Na und? Wenigstens ermutigt das dazu, auch selbst nicht immer gute Miene zum bösen Spiel zu machen und offen zu zeigen, wenn’s einem feut. Hier kann man problemlos mit fadem Aug‘ in der U-Bahn sitzen, ohne gleich der Owezara des Waggons zu sein. Denn mindestens drei Gleichgesinnte sitzen gleich daneben.
Weil man sogar im Kaffeehaus Spritzwein bekommt
Apropos Grant: Auch der grantige Wiener Kellner ist natürlich das Stereotyp schlechthin. Ob das zutrifft oder nicht, lassen wir jetzt einfach mal so stehen und holen es vielleicht später noch einmal ab. Denn im Kaffeehaus geht’s uns meistens um etwas ganz anderes: Spritzwein. Klingt komisch, ist aber ziemlich leiwand. Denn in Wien gibt es viele alteingesessene Cafés, die längst nicht auf koffeinhaltige Heißgetränke limitiert sind und sowieso eher als Beisln fungieren. Wir wollen da aber keine Namen nennen. Hust, Café Bendl, hust.
Weil man sich in der Ballsaison fühlt wie in einem Historienroman
Und ist man mal schön ein’tranglt, geht’s auch schon auf Leppschi. Besonders zur Ballsaison rafft sich selbst der größte Partymuffel vom Fauteuil auf, schmeißt sich in seine schickste Kluft und wirbelt ein paar Mal übers Parkett. Für seine prunkvollen Bälle ist Wien schließlich weltbekannt. Und auch wenn man selbst lieber Zaungast ist: Sobald die Ballkleider und Smokings an einem vorbeirauschen, fühlt man sich plötzlich zurückversetzt ins 19. Jahrhundert. Ein Ausflug ins Gestern kann auch mal was Schönes sein. Es sei denn, man befindet sich auf dem Akademikerball. Aber das ist eine andere Baustelle.
Weil es nach dem Fortgehen immer irgendwo einen Würstelstand gibt
Zu Mitternacht stopfen auf fast jedem Ball die Sacherwürstel die hungrigen Mägen. Aber nicht nur dort. Egal zu welcher Uhrzeit man aus dem Club, aus dem Beisl oder dem Kaffeehaus wankt, irgendwo hat immer noch ein Würstelstand geöffnet, der das Nachtvolk mit durchgebratetsten Käsekrainern und Co. versorgt. Nur Eitrige, Bucklige oder 16er-Bleche würden wir hier bei aller Wien-Verklärung nicht bestellen, das ist bloß etwas für Tourist*innen, die sich den Einheimischen ungelenk überheblich anbiedern wollen.
Weil der Tod zum Leben dazugehört
„Der Tod, das muss ein Wiener sein“, singt Georg Kreisler. Ganz Unrecht hat der damit nicht, die den Wiener*innen zugeschriebene Morbidität lässt sich mit dem Zentralfriedhof als einer der größten Friedhofsanlagen Europas auch nur schwer aus dem Holzpyjama beuteln. Der sonntägliche Spaziergang über seine Gräberfelder ist für manche hier beliebter Familienausflug. Und warum auch nicht? Der Tod gehört immerhin dazu zum Leben. Zumindest in Wien.
Weil beim ersten Schneefall alles stillsteht
Im Winter kommt es wie das Amen im Gebet: Der erste Schnee fällt zaghaft, kaum merklich und Wien ist im Ausnahmezustand, als würde die nächste Eiszeit über uns hereinbrechen. Öffis fallen aus, Autos kriechen auf allen Vieren durch die Stadt und man hat eine willkommene Ausrede, zwei Stunden zu spät im Büro aufzutauchen und eingekeilt in der Straßenbahn endlich zu lernen, wie man twittert. Vor einigen Jahren war das noch eine mühsame Angelegenheit für uns. Doch mittlerweile finden wir das kleine Wiener Schneechaos fast schon charmant, zumindest aber irgendwie entschleunigend.
Weil im Frühling im Prater die Bäume blüh’n
Jeder Anfang hat ein End‘, und jedem Winter folgt bekanntlich der Frühling. Und in Wien ist der besonders schön. Nicht umsonst besingt ein bekanntes Wienerlied die blühenden Kastanienbäume entlang der Hauptallee. Bei uns kommt nirgends so kitschige Ansichtskartenstimmung auf wie im Mai im Wiener Prater.
Wegen der Melange
Bevor wir einen Schuh machen und Habedere sagen, machen wir noch einmal einen Abstecher ins Kaffeehaus und holen uns das Klischee vom grantigen Kellner ab, das wir vorhin dort in der Kuchenvitrine gelassen haben. Und dabei trinken wir natürlich klassisch wienerisch eine Melange. Denn die steht nicht nur für die hartnäckige Verweigerung des Baristatums, sondern hat nahezu Philosophisches: Ganz Wien ist eine Melange, eine Mischung aus verschiedensten Menschen und Kulturen, die längst untrennbar zum Typischsten für Wien verschmolzen ist: der Vielfalt.
Ihr wollt eine Extraportion Senf? Dann folgt unserer Liste mit Unserem Senf für mehr Kommentare. Dort verrät dir unsere Redakteurin auch, warum sie gerne über den Zentralfriedhof spaziert.