Unser Senf: Warum wir alle mal tief durchatmen sollten
In dieser Meinungskolumne geben wir regelmäßig unseren Senf dazu, egal ob süß, scharf, mit Käsekrainer oder doch mit Grillgemüse. Wir richten einen persönlichen Blick auf Themen, die uns zum Lachen, zum Weinen oder zum Nachdenken bringen. Dieses Mal geht’s um die deutlich eingereiztere Stimmung, die ein Jahr Pandemie mit sich brachte.
Morgens, 7 Uhr in Simmering: Ich gehe mit meinem lächerlich niedlichen Welpen Gassi, als hinter uns ein Kerl in dunklem Hoodie und mit großem Hund an der Kettenleine heranschlurft. Mein Welpe setzt sich hin, legt den Kopf zur Seite – und schaut. Das ist alles. „Wos is, brauchst a Possbüd?“, schreit mir der Kapuzen-Typ aus einigen Metern Distanz plötzlich entgegen und wechselt die Straßenseite. Ich hätte nie damit gerechnet, dass jemand auf offener Straße meinen unfassbar herzigen Hund anschreit (oder mich, aber der Neigung des Kapuzenpullis nach zu urteilen, hat er sich eher an den Hund gerichtet). In einem normalen Jahr mit einer normalen Virenpopulation wäre ich wahrscheinlich einfach perplex weitergegangen und hätte jeden Blickkontakt vermieden, um mich mit diesem Ungustl nicht auch noch länger abgeben zu müssen als unbedingt nötig.
Aber nach fast zwei Jahren Pandemie tickt mein innerer Bombentimer um einiges schneller. Also kepple ich ihm von meiner Straßenseite aus irgendetwas nach von wegen „Welpe“ und „aggressiver Vollidiot“, worauf er irgendwas zurückkeift mit „Hund sieht aus wie eine Katze“. Jetzt reicht’s, jetzt hat er das kleine Fellknäuel, das sein Schicksal vertrauensvoll in meine Obhut gegeben hat, auch noch aktiv beleidigt. Das nächste, was ich weiß, ist, dass ich ihm nachschreie, dass er sich trauen soll, mir (oder eigentlich eher: meinem Hund) das ins Gesicht zu sagen, die Arme zur Seite erhoben wie eine kampfbereite Jesusstatue, während sich der tollpatschige Welpe zu meinen Füßen ungeniert zwischen den Beinen leckt. Der Kapuzen-Typ neigt bloß sein Haupt und huscht meckernd davon. Und im Nu bin ich der Ungustl, der auf offener Straße herumpöbelt.
Platzende Krägen und kurze Lunten
Um eins gleich mal klarzustellen: Ich bin weder ein Fan von Gewalt noch bin ich mir sicher, dass ich in einem Handgemenge überhaupt wissen würde, was ich mit meinen Händen machen soll. Es ging mir also nicht darum, mich zu prügeln. Mir ist einfach der verbale Kragen geplatzt. Am helllichten Tag. In aller Öffentlichkeit. Und es ist nicht das erste Mal, dass mir in den vergangenen Monaten das mehrfach Geimpfte unverhältnismäßig schnell aufgegangen ist. Meine Lunte ist verschwindend kurz geworden, mein innerer Druckkochtopf stets kurz davor, überzubrodeln. Meistens äußert sich das lediglich in Grant und Verstimmung, mittlerweile anscheinend auch in großgoscherter Schimpferei. Und damit bin ich längst nicht allein. Nach fast zwei Jahren Ausnahmezustand, verminderten Kontakten, erhöhter Angst um die eigene Gesundheit und die der Menschen um uns herum und einer alarmierend diffusen Kommunikationsstrategie der Regierung liegen die Nerven bei vielen längst blank. Ja, wer weiß, vielleicht ist der Kapuzen-Arsch sonst eigentlich ein ziemlich umgänglicher Kapuzen-Philanthrop und auch ihn hat es situationsbedingt ausgehagelt und er schämt sich nun in Grund und Boden, weil er einen Welpen angeschrien hat. Gesehen habe ich ihn jedenfalls seither nicht mehr in meiner Gasse.
Während die Grundstimmung also im ersten Lockdown noch eine überwiegend solidarische war und wir brav von unseren Balkons klatschten, ist mittlerweile längst die Luft raus. Bei so ziemlich allen, traue ich mich mal zu behaupten. Statt der „Wir-schaffen-das-Mentalität“ herrscht zunehmend Frustration, Wut, Verstimmung, und zwar in allen Lagern. Zu behaupten, uns alle eint der Grant, wäre aber naiv. Es ist nicht derselbe Grant, nicht dieselbe Wut, die die Gemüter zurzeit erhitzen. Im Gegenteil: Der Grant richtet sich zusehends gegeneinander, besonders die Gräben zwischen jenen, die sich an die Maßnahmen halten und an die Vernunft appellieren, und jenen, die auf alles pfeifen und die große Weltverschwörung wittern, scheinen unaufschüttbar geworden. Sie ziehen sich nicht nur durch die Medien, sondern auch durch Freundeskreise und Familien.
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Blinder Grant
Regelmäßig wälzen sich Demonstrationszüge über die Wiener Straßen, bei denen Esoteriker*innen Schulter an Schulter marschieren mit Rechtsextremen und verurteilten Nazis. Politiker*innen gießen auch noch Öl ins Feuer, indem sie bei solchen Veranstaltungen flammende Reden halten oder ihrer Gefolgschaft empfehlen, Pferdeentwurmungsmittel zu schlucken, statt sich impfen zu lassen, sie schreien Spaltung, obwohl sie selbst einen wesentlichen Anteil daran haben.
Natürlich ist es zermürbend, das mit anzusehen, nach wie vor mit den Mitmenschen über die richtige Tragweise einer FFP2-Maske streiten und dieselbe leidige Impfdiskussionen mit Freund*innen und Familie zu führen zu müssen. Aber bevor wir mit unseren ausgedünnten Nerven nach allen Richtungen um uns schnalzen und den Grant, den viele gerade in Wien sogar als irgendwie charmant empfinden, zur ungezähmten Wut gegeneinander ausarten lassen, sollten wir vielleicht mal alle kurz durchatmen. Damit diese Krise nicht noch mehr zerstört als ohnehin schon und wir uns auch danach noch in die Augen schauen können. Im Großen wie im Kleinen. Dass das oft mit bloßem Durchatmen und Innehalten nicht getan ist, ist natürlich auch klar. Gerade in Zeiten wie diesen ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass es nicht nur okay, sondern schlichtweg menschlich ist, wenn man Hilfe dabei braucht. Sie auch in Anspruch zu nehmen, ist immer eine gute Idee. Für mich bedeutet das jedenfalls: Das nächste Mal, wenn jemand meinen Hund anschreit, konzentriere ich mich auf das, was mir wirklich wichtig ist. Auf den kleinen Fellknäuel, der mir trotz des Wahnsinns um ihn herum immer noch treumütig entgegenhechelt. Vielleicht kann ich da ja sogar noch etwas von ihm lernen.
Für alle, die zurzeit ein wenig strugglen, haben wir übrigens ein paar Tipps zusammengetragen, wie wir uns um unsere psychische Gesundheit kümmern können. Außerdem haben wir uns für ein bisschen Vorfreude schon mal überlegt, was wir alles tun werden, wenn die Krise vorbei ist.