Unser Senf: Zugfahren könnte so schön sein
Weil ein bisschen Würze im Leben nie schaden kann, geben wir euch mit dieser Kolumne regelmäßig unseren Senf dazu: Wir erzählen euch, was uns beschäftigt, was uns nervt und was uns zum hysterischen Lachen bringt. Eure Käsekrainer könnt ihr zwar nicht darin eintunken, aber dafür ist unser Senf auch gratis. Dieses Mal überlegt unsere Redakteurin, warum manche Leute im Zug so gerne saufen und dass ihr das meistens unfassbar auf die Nerven geht.
Ta-tack, ta-tack, ta-tack. Der immer gleiche Rhythmus beruhigt die flatternden Gedanken. Im Moment gibt es nichts, woran sie sich festkrallen könnten. Nicht einmal am Draußen. Die weite Landschaft zieht so schnell am Fenster vorbei, dass sie zu einem einzigen wilden Farbklecks zerrinnt. Der Kopf ruht, in einen Schal eingemummelt, auf der Rückenlehne. Einmal tief einatmen. Und dann ganz fest aus. Der Zug ist einer von jenen Orten, an denen man sich selbst nicht auskommt. Und gleichzeitig allem anderen ideal entwischt. Der Alltag verschwimmt mit den Bäumen und Häusern, die vorbeirasen, zu etwas Abtrennbarem, etwas, dessen man sich offenbar doch entledigen kann, solange man in Bewegung bleibt. Und gleichzeitig sitzt man selbst dabei ganz still. Man nistet sich für einige Minuten oder Stunden in einem Raum ein, der eigentlich keiner ist. Macht es sich so gemütlich wie möglich. Und zelebriert das Provisorische. Endlich einmal nicht längst angekommen sein müssen. Endlich einmal erst auf dem Weg sein können. Wohin, ist da fast schon egal.
Süffige Sitznachbarn
Ja, ich liebe Zugfahren. Setzt sich der Zug behäbig in Bewegung, setzt bei mir das Alltagsgewurdel aus. Kopfhörer rein, Musik an, Kopf aus. Für ein paar Schienenschläge folgt das Herz einem ganz neuen Takt. Die Lider senken sich auf Halbmast, das Unterkiefer sackt ein wenig nach unten ab, lässt ein Stück weit ab vom restlichen Schädel, der Atem wird tiefer. Ein, aus, ein aus. Jetzt könnte ich fast – „’Schuldig’n, is’ do no frei?“ Der viel zu laut ausgespiene Satz zieht langsam eine Alk-Fahne hinter sich her, die mir schließlich mit voller Breite ins Gesicht peitscht. Und schon lässt sich der Kerl, aus dem Satz und Fahne austreten, in den Sitz gleich neben mir fallen. Plumps. „Tschuidgn’S, jetz’an hob i hoid awldasdkasjdkj.“ Die anfangs noch angestrengten Artikulationsbemühungen meines süffigen Nachbarn münden schließlich in lose Buchstabenketten und diese wiederum in Schnarchlaute, die an brünftige Elefanten erinnern. Leiwand. Und schon ist’s vorbei mit der Selbstfindung-auf-Schienen-Schiene. Stattdessen doch eher Grant und wachsende Misanthropie. Ja, das Zugfahren könnte so schön sein. Wären da nicht manchmal die illuminierten Fahrgäste.
Zugegeben: Nicht alle Fahrgäste sind Rauschkugeln. Im Gegenteil: Die meisten sind ruhig, angenehm, und genauso wenig auf nervenaufreibende soziale Interaktion aus wie ich selbst. Aber manche, besonders bei Langstreckenfahrten, eben schon. Erstaunlicherweise. Woher ich das weiß? Der krönende Abschluss all meiner Aufenthalte bei meinen Kärntner Freund*innen ist eine fast fünfstündige Solo-Heimreise per Zug. Mehr als genug Zeit also, die Vorzüge des Schienenreisens in vollen Zügen auszukosten. Manchmal ist das doppeldeutig. Doch gelegentliches Gewurdel im Abteil tut meiner Entspannung keinen Abbruch – ich habe ja Kopfhörer und einen sehr tiefen Schlaf. Was mich hingegen schon das eine oder andere Mal dezent aus der Zen-Stimmung gerissen hat, ist ein deftiges Gesaftel, das plötzlich das ganze Abteil durchnebelt. Meistens ist es mit einer Gruppe Jungmenschen in den Zug getaumelt, die sich auf mehrere Viererplätze ausstreckt. Bier-Odeur am Samstag um neun Uhr Früh ist weder etwas, womit man rechnet, während der Zug durch das tiefverschneite Kärnten zuckelt, noch hat man da gesteigerten Gusto drauf.
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Wegriechen und weghören
Das Problem bei unangenehmen Gerüchen ist vor allem, dass man nicht einfach „wegriechen“ kann. Visuelle Ärgernisse kann man ausblenden, indem man wegschaut. Auditives Grantpotenzial kann man ausschalten, indem man sich laute Musik durch die Kopfhörer reinzieht. Aber wie zur olfaktorischen Hölle zieht man bitte seine Nase gekonnt aus der Affäre? Konzentriert am eigenen Schal schnüffeln, ist zwar eine Option, aber für fünf Stunden keine nachhaltige.
Denn meistens haben diese Testosteron-Truppen dasselbe Ziel wie ich: die Hauptstadt. Die eignet sich nämlich besonders gut für ausgelassene Junggesellenabschiede. Woher ich das weiß? Meistens sind die Bier-Ausdünster nicht unbedingt in kontemplativer Stimmung und lassen gern den ganzen Zug wissen, dass „für’n Ferdl da Spaß boid a End hot“ und er „on de Leine gnumman wiad“. Da sind sie schon, die Flachwitze mit erstaunlichem Tiefenrauschpotenzial. Dazwischen dröhnendes Lachen, das klingt, als hätten ein paar Gruppenmitglieder ihre Zwerchfelle an Motorsägen angeschlossen. Und alle paar Minuten kracht der Verschluss einer weiteren Hüs’n zum exzessiven Frühshoppen. Eine Sternstunde für die Menschheit. Besonders, wenn dann auch noch unterqualifizierte politische Gespräche die Gemüter erhitzen, die ein leichter Sud gerne mal mit sich bringt. Hurra.
„Sssshhhhtttt“
Abebben wir die aufgeladene Stimmung nur, wenn der Rausch entweder überhandnimmt und man erst einmal „vorschlafen“ muss für das mordsmäßige Partywochenede. Oder man ist durch das konstante „Ssshhhhttt“ einiger mutiger Fahrgäste schließlich doch einsichtig. Aber natürlich nicht ohne vorangegangenen Protest. Meistens gibt es einen in der Runde, dem seine Kollegen dann nämlich doch irgendwie peinlich sind, der sich aber nicht als Spaßbremse outen will. Was ihm bleibt, ist ein ironisches „Ssshhhttt“ auf seine Kumpels hin, und ein verschlagenes Augenverdrehen in Richtung der echauffierten Fahrgäste. Die Haltbarkeit der kurzen Ruhe entspricht allerdings höchstens der eines Milchprodukts in praller Sonne. Ein wiederkehrendes Dilemma.
Und keines, das nur auf Fahrten Richtung Hauptstadt begrenzt ist. Nein, auch die Wiener*innen geben sich gerne mal ausgiebig die Promille-Kante, wenn sie sich schon mal aus dem Wasserkopf rauswagen. Bestes Beispiel etwa: Der Saufzug zum Nightrace in Schladming. Da bist du ohne Alk und mit einem leicht reißbaren Geduldsfaden definitiv fehl auf deinem vorreservierten Platz.
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Reisen und Saufen als Eskapismus
Wie für mich also das Zugfahren willkommene Loslösung vom Alltag ist, ist es für manche ebenso willkommene Loslösung vom leidigen Nüchternsein. Irgendwie ist das ja nicht ganz unverständlich: Wenn schon Gruppensaufen auf Reisen, dann wohl am besten im Zug. Im Auto wär’s denkbar unfair, sich die Kante zu geben, während einer dem Steuerrad verpflichtet ist. Im Zug ist man wenigstens endlich mal gemeinsam betoniert. Und was soll man bitte auch sonst mit der gemeinsamen Zeit anfangen, in der man auf engsten Raum zusammengepfercht ist?
Vielleicht steckt aber sogar noch mehr dahinter als das gmiadliche Pipperln als beliebte Gruppenaktivität. Vielleicht sind die Zugtrangler und ich einander gar nicht so unähnlich. Für beide hat das Unterwegssein, ohne sich selbst aktiv in Bewegung zu setzen, wohl etwas Befreiendes, ein Losgelöstsein vom ständigen Z’sammreißen. Man ist gleichzeitig überall und nirgends. Ausnahmezustand. Und wie verstärkt man eine Ausnahme besser als mit ein bisschen Öl?
„Ist da noch frei?“
Das Schöne am Zugfahren: Wenn mir die unverhoffte, aufgezwungene Partystimmung der anderen dann doch zu nervenreibend wird, kann ich einfach in einen anderen Wagon wechseln. Im Unterschied zum Flugzeug etwa, wo ich den wahnsinnigen Malle-Tourist*innen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bin, bis wir landen. Ich suche mir also im nächsten Wagon den*die Sitznachbar*in, der*die das geringste Übel verspricht, und reiße nun meinerseits eine junge Frau mit Kopfhörern aus ihrer Zug-Meditation. „‘Tschuldigen, ist da noch frei?“ Ein ewiger Kreislauf.
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Ihr wollt noch mehr Senf zu öffentlichen Verkehrsmitteln? Unsere Redakteurin erzählt euch, wie das Hinsetzen in den Öffis zum sozialen Leistungsdruck wird. Wenn ihr lieber selbst loszieht, bieten unsere To Dos jede Menge Inspiration für einen sonnigen Tag.