Unterwegs im vergessenen Wien
Die aus Römerzeiten stammenden Mauern am Michaelerplatz, die Überreste der Wiener Stadtmauer am Stubentor, die Wiener Flaktürme bezeugen öffentlich die lange und bewegte Geschichte der Stadt. Aber dass teilweise der eigene Keller Zeitgeschichte erzählt, ist vielen nicht bekannt. Wir waren mit jemandem unterwegs, der weiß, wonach man suchen muss, wenn man dieser Geschichte lauschen möchte.
Als ich am späten Nachmittag eines milden Märztags am Treffpunkt ankomme, bin ich überrascht. Jerry ist jünger, als ich ihn mir vorgestellt habe: 25 Jahre. Mein Reiseführer in die Wiener Unterwelt steht außerdem in einer hellbraunen Stoffhose und einem Baumwoll-Strickpullover vor mir. Ich wiederum bin in voller Sportmontur. Mein Handy, den Schlüssel, eine Taschenlampe und Co. habe ich in einen wasserfesten Rucksack aus Plastik mit zusammenrollbarer Öffnung gepackt. Auch Jerrys Freundin Kathi trägt einfach Jeans, Freizeitschuhe und eine Jersey-Weste. Zumindest hat Jerry feste Bergschuhe an. Trotzdem, plötzlich komme ich mir ein bisschen lächerlich vor in meinem Hobby-Indiana-Jones-Aufzug für unsere Expedition. Ich werde aber noch dankbar sein für die Bewegungsfreiheit, die er mir erlaubt.
Hinterlasse nichts, außer Fußabdrücke
Jerry heißt mit vollem Namen Jeremy und ist an sich Vollzeit angestellt. Seine Expeditionen unternimmt er in der Freizeit. Er kam mit 18 Jahren zum ersten Mal mit Urban Exploring in Berührung, wie es in der Community abgekürzt wird. Dabei erkundet man von der Zivilisation verlassene oder inmitten von belebten Gebieten verwaiste Orte. Damals lernte er bei einem guten Freund das Fotografieren. Für ein Shooting fuhren sie nach Feichtenbach, ein Ort, der unter Urban Explorern sehr bekannt ist. „Das ist, blöd gesagt, die Urb-Ex-Hure in Österreich“, lässt mich Jeremy wissen, weswegen es dort auch schon schrecklich aussehe und viel zerstört sei. „Das kennt echt jeder. Das ist, wie wenn dich wer fragen würde, ob du den Stephansdom kennst.“
Wer in der UrbEx-Szene von Feichtenbach redet, meint damit das 1903 von zwei jüdischen Ärzten eröffnete Sanatorium Wienerwald, das als Lungenheilanstalt erbaut wurde und viele prominente Gäste hatte. Die Nazis arisierten die Anstalt und installierten dort ein Entbindungsheim des Vereins Lebensborn. Nach dem Krieg diente das ehemalige Sanatorium zuerst als Kurheim und später als Hotel, aber seit einigen Jahren verfällt es. In den Nachrichten war die Ruine immer wieder als Location illegaler Parties und einmal, weil in einem Raum Blut gefunden wurde, das sich nach Ermittlungen als Tierblut entpuppte. Wer das ehemalige Sanatorium googelt, findet haufenweise Bilder, auf der die Verwüstung dokumentiert ist.
Gebrochener Ehrenkodex
Dabei lautet eine goldene Regel in der UrbEx-Szene: „Nimm nichts mit außer Fotos und hinterlasse nichts außer Fußabdrücke“. Leider halten sich nicht alle an die Regeln, die den Ehrenkodex der UrbEx-Szene ausmachen. Manche könnten der Versuchung nicht widerstehen, spannende Fundstücke einzupacken und mitzunehmen, erzählt Jerry. Ebenso ein No-go ist übrigens, sich mit Gewalt Zutritt zu verschaffen: Fenster zu zerschlagen, um in ein versperrtes Haus zu gelangen, verstößt also ebenfalls gegen das Grundprinzip der UrbEx-Szene.
In Feichtenbach passiert das aber ständig, wie Zeitungsberichten zu entnehmen ist. „Es gibt wenige Ehrliche“, sagt Jerry ernst. Deswegen ist die „richtige“ Szene, wie er sie nennt, recht klein. „Wir brechen nirgends ein, wir machen nichts kaputt und wir verändern nichts.“ Wenn aber auf einem Bett ein Gegenstand liege und man ihn für ein Foto etwas anders platziere, sei das etwas Anderes. „Aber an sich greifen wir auch nichts an.“ Wer es mit UrbEx ernst meint, recherchiere auch mal monatelang mit der Hilfe von Karten, aber auch mit Google Maps, über dessen Satellitenbilder man nach eingefallenen Dächern oder verwachsenen Gärten suchen könne, spräche mit Zeitzeug*innen und Anwohner*innen. Das Fotografieren an sich sei dann die Belohnung und das verstünden viele nicht. „Die wollen nur fotografieren, coole Sachen sehen und das war’s.“ Respektloses Verhalten gegenüber den Orten, die man besucht, schädigt dann den Ruf aller, die UrbEx machen, also auch derjenigen, die sich an die Regeln halten.
Jerry selbst hat sich mittlerweile einen Namen in der Szene gemacht, hat mit der Zeit durch immer mehr Kontakte immer neue Ressourcen und Tipps bekommen. Er erzählt, dass er schon in Ungarn, Italien, Belgien und sogar bei Tschernobyl auf Erkundungstour unterwegs war. Fotos und Eindrücke seiner Expeditionen in Wien teilt Jerry auf Instagram über seinen Account Vergessenes Wien und über eine gleichnamige Website. Seine Bilder wären im Juni 2020 im Kunsthaus Wien ausgestellt gewesen.
Die Stadt unter der Stadt
Jerry wird uns unter eine ehemalige Vorstadt Wiens führen. Nur wenige wissen, dass sich unter diesem vergleichsweise jungen Stadtteil Wiens ein weitläufiger Komplex befindet, der, genau weil er relativ unbeachtet und unbekannt ist, seine Geschichte ein Stück weit selbst erzählen kann. So etwas ist Jerrys Spezialität. 2019 hat er begonnen, sich auf vergessene Orte in Wien zu spezialisieren und widmet sich mit Vorliebe Luftschutzbunkern und Stollensystemen unter der Stadt. Weil Jerry jene Orte, die er mit seinem Projekt aufsucht, schlecht über das beliebte UrbEx-Recherche-Tool Google Maps ausfindig machen kann, hält er sich an Luftpläne aus dem 20. Jahrhundert und an Luftschutzraumpläne. „Es gibt so viele unterirdische geheime Verbindungstunnel, Gänge, U-Verlagerungen, Luftschutzbunker, die teilweise nur über Kanaldeckel erreichbar sind“, zählt Jerry auf, „aber Wien interessiert das nicht.“
Mit besonderer Begeisterung erzählt er immer wieder vom Luftschutzraum-Netz unter der Inneren Stadt, das entstanden ist, als man während des Kriegs teils Verbindungsgänge zwischen Häusern gegraben hat, um Fluchtmöglichkeiten für den Fall von Bombentreffern zu schaffen. Manche von ihnen sind auch heute über die Keller von Wohnhäusern zugänglich, ohne, dass ihnen viel Beachtung geschenkt wird, erzählt Jerry. Auch in Kellern, die längst hergerichtet wurden und in Verwendung sind, findet Jerry noch fluoreszierende Wandmarkierungen, die etwa Notausgänge anzeigen, oder andere Relikte aus dem Krieg. Die alten Pläne haben allerdings auch ihre Tücken. Wenn er sie in der Hand hält, weiß Jeremy nicht sicher, ob die Schächte und Schutzräume jemals so gebaut wurden oder ob sie noch intakt sind. Manche der geplanten Stollensysteme wurden nämlich nie vollendet, andere wurden nach dem Krieg zugeschüttet oder zugemauert. In Berlin mache die Stadt etwas aus jenen Orten, die zugänglich und erhalten sind, der Verein Berliner Unterwelten biete sogar Führungen an, erzählt Jerry. In Wien sei diese Idee noch nicht so ganz angekommen – zumindest nicht in der öffentlichen Hand. Im Flakturm im Esterhàzy-Park im 6. Bezirk wurde unter dem Titel Erinnern im Innern ein Flakturm-Museum eingerichtet, vom Haus des Meeres ermöglicht, wo der Luftschutz während des Zweiten Weltkriegs behandelt wird.
Nur die Teleskop-Leiter, die Jeremy mitgebracht hat, gibt einen Hinweis auf das, was wir vorhaben. Via Mail hat er mir verraten, dass wir durch eine enge Röhre kriechen und uns abseilen werden. Mehr weiß ich nicht. Auf dem Weg zum Einstieg lässt jeder Kanaldeckel, dem wir uns nähern, in mir Erwartungen aufsteigen, die sich in Luft auflösen, sobald Jeremy daran vorbei spaziert. Über einen Pfad tauchen wir ein ins Gebüsch, wo wir den Vierten im Bunde treffen: Michael. Michael sagt von sich selbst, er sei zuerst ein „Groupie“ von Jeremy gewesen. Durch einen gemeinsamen Freund sind die beiden mittlerweile zu Kollegen und Gefährten auf Erkundungstouren geworden. Während Jeremy sich ganz auf sein Smartphone verlässt, das er leicht überall hin mitnehmen kann, ist Michael mit einer Kamera ausgerüstet. Während Jerry sich auf die Dokumentation seiner Entdeckungen beschränkt, beschäftigt sich Michael eingehender mit Fotografie, die in der UrbEx-Szene einen hohen Stellenwert hat. Gemeinsam erreichen wir unser Ziel, eine in einen Hang gebaute Betonröhre.
Geschichtsstunde à la Indiana Jones
Solche Expeditionen in die Wiener Unterwelt sind nicht ungefährlich. Jeremy hat bereits Erfahrung, war in seiner Kindheit im Leichtathletik-Turnverein und sagt, er habe sich davon einiges behalten. Außerdem gibt er oft jemandem Bescheid, wo er unterwegs ist, damit Hilfe geholt werden kann, sollte er nach einer gewissen Zeit nicht mehr auftauchen. An sich, sagt er, sei alles, was in Wien ist, halb so schlimm: „Du musst nirgends durchschwimmen oder durchtauchen.“ Trotzdem: Zur Sicherheit schicke ich meiner besten Freundin einen Screenshot von Google Maps mit einer Markierung unserer Position und stelle ihr in Aussicht, dass ich mich spätestens um 19.30 Uhr wieder melde. So gespannt ich auf das bin, was uns dort unten erwartet, und so sehr ich mich auf die Herausforderung freue, so viel Respekt habe ich vor dem Unterfangen.
Jerry bricht nirgends ein. Aber wenn ein unverschlossener Weg vor ihm liegt, geht er ihn. Bisher hat er nur einmal mit der Polizei zu tun gehabt. Damals war er in einer Gruppe mit mehreren Personen unterwegs. Es gab eine Anzeige wegen Besitzstörung. Jeremy erzählt, die Polizei hätte gedacht, er wäre für eine Zeitung vor Ort, um illegal Fotos zu machen, im Grunde sei das also ein Missverständnis gewesen. Mit einer Geldstrafe im niedrigen dreistelligen Bereich war „die Sache gegessen“. Ein anderes Mal hat er sich mit Kollegen in einen Teil des unterirdischen Stollensystems abgeseilt, wobei einer seiner Begleiter einige Meter in die Tiefe gestürzt ist. Er musste gerettet werden und den Rettungseinsatz zahlen, aber wegen des Ortes, an dem sie sich befunden hatten, hätten sie keine Probleme bekommen. Jerry betont immer den dokumentarischen Aspekt seiner Arbeit. Er hat kein Interesse daran, etwas kaputt zu machen oder zu entwenden. Ihm geht es darum, Relikte der Zeitgeschichte aufzuspüren, sie fotografisch festzuhalten und von ihnen zu erzählen.
Jeremy erzählt, dass die Röhre einst als Lüftungsschacht gedient hat. Dahinter liegen Keller eines bereits im 20. Jahrhundert stillgelegten Betriebs. Während des Zweiten Weltkriegs kamen solche verlassenen unterirdischen Komplexe sehr gelegen: Sie wurden teils adaptiert und dienten dann als Untertage-Verlagerungen, kurz U-Verlagerungen, unter die Erdoberfläche verlegte und somit vor Spähern verborgene und damit vor Bombenangriffen sichere kriegsrelevante Produktionsstätten. Ich stoße auf den Namen eines großen deutschen Elektrokonzerns, der während des Zweiten Weltkriegs dort produziert haben soll. Was genau in dieser U-Verlagerung hergestellt wurde, weiß Jerry nicht. Wie das mit Standorten von Geheimoperationen so ist, ranken sich einige Mythen um die U-Verlagerung, etwa, dass dort Giftgas gelagert worden sein soll. Mehr als Gerüchte findet man dazu aber nicht.
Abstieg in eine Zeitkapsel
Jeremy hat diese Expedition schon einmal unternommen. „Die ersten circa sieben Meter in der Röhre sind noch okay, da kannst du dich gerade noch hinhocken und die letzten drei Meter kannst du dich nur noch im Liegen durch robben. Du musst also verkehrt herum weiter robben.“ Weil er weiß, dass sich nicht alle damit wohlfühlen, durch eine enge Röhre zu robben, durch Staub und Spinnweben, müssen wir jeweils einmal versuchen, bis ganz nach vor und wieder zurück zu robben. Vorwärts kommen alle recht gut damit klar. Beim tatsächlichen Abstieg kommt aber erschwerend hinzu, dass man mit den Füßen voran in Richtung Abgrund robben und mit den Armen an den Röhrenseiten Halt finden muss, bis man sich wieder auf seine Füße verlassen kann.
Jeremy geht vor, um die Leiter abzuseilen und den Abstieg für uns vorzubereiten. Die Leiter ist an ein Seil gebunden, das Michael mit einem Karabiner außerhalb der Röhre an einer der Metallstreben befestigt. Das Seil ist leicht gespannt und dient auch als Abstiegshilfe für die etwa zwei Meter Höhenabstand, die zwischen dem Kopf der Leiter und der Schachtöffnung liegen. Jeremy macht den Abstieg, wir liefern ihm unsere Taschen nach. Dann gibt er uns Bescheid, dass wir nachkommen können. Ich bin die Erste und krabble vorwärts in die Betonröhre hinein. Ich beschließe, mich nicht aufmerksam in der Röhre umzusehen. Mit Spinnweben, der Enge und dem Schmutz komme ich gut klar, aber ich muss nicht unbedingt wissen, dass ich dicht an dicht mit einer größeren Spinne in der Röhre sitze. Stattdessen konzentriere ich mich auf das Licht am Ende des Tunnels – Jeremy hat bereits einen Scheinwerfer installiert, der die Halle erleuchtet. Ich gelange zum engen Röhrenteil. Ohne mir allzu viel Gedanken darüber zu machen, was passiert, wenn ich unpraktisch stecken bleibe, lasse ich meine Hüfte nach hinten fallen, krümme meinen Oberkörper, um mich so kompakt wie möglich zu machen, und drehe mich dabei zur Seite. Der halbe Spaß ist geschafft. Ich stecke nun seitlich in der Röhre, mein Kinn auf meiner Brust, meine Oberschenkel an meinem Oberkörper, und wünsche mir, mobiler in der Hüfte zu sein. Irgendwie arbeite ich mich über den absoluten Quetschpunkt hinaus und lande mit meinem Oberkörper in Richtung Ausgang. Vorsichtig bewege ich mich rückwärts in Richtung Abgrund. Mit meiner rechten Hand halte ich mich am Seil an, während ich meine Füße, dann meine Schienbeine und schließlich meine Oberschenkel über die Kante und ins Nichts schiebe. Die letzten paar Zentimeter kann ich mich auf das Seil nicht verlassen, es liegt zu eng am Beton, ich würde mir die Finger einzwicken. Also stemme ich meine Arme seitlich gegen die Röhre. Jeremy wartet auf der Leiter und führt meine Füße auf seine Schultern, um mir Halt zu geben. Er lotst mich zu einer Stelle in der bröckeligen Wand, an der ich mit den Zehen eines Fußes Halt finde. Unterhalb der Röhrenkante fasse ich das Seil und irgendwie lande ich auf der obersten Leitersprosse. Vorsichtig klettere ich die an die Wand gelehnte Leiter hinunter. Endlich auf festem Boden angelangt, nehme ich die Größe der unterirdischen Halle, in der wir gelandet sind, zum ersten Mal wahr. Sie muss etwa sieben Meter hoch und breit und grob geschätzt 50 Meter lang sein, vielleicht sogar mehr. Mein Blick schweift über den Boden, bleibt an einem gelben Bauhelm hängen und an hölzernen Holzüberresten, an denen teils noch Sprungfedern hängen, was Aufschluss darüber gibt, dass es sich bei dem Haufen an Holz zumindest teils um einen verwitterten Fauteuil handeln dürfte.
Unterirdische Fundstücke
Auf seinen Expeditionen hat Jeremy bereits viel gefunden: von Hakenkreuz-Ansteckern über Gasmasken bis hin zu Kinderspielzeug, alter Reklame und Zeitungen vergangener Tage. Wenn er im Rahmen seines Projekts Vergessenes Wien etwas Spannendes findet, versucht er manchmal, es zu retten. Als Beispiel nennt er eine KFZ-Werkstätte am Wienerberg, die in einem ehemaligen Luftschutzbunker ihr Reifendepot hat. „Die haben eine wunderschöne alte Luftschutztüre da drinnen, die ihnen nur im Weg ist und die sie wegschmeißen wollten.“ Er sei im Gespräch mit dem Eigentümer, um ihm die Türe abzunehmen.
Kathi und Michael sind nun ebenfalls in der Halle angekommen und wir starten unseren Rundgang. Laut Jerry sind wir im kleinen Teil der Anlage gelandet. „Wenn das hier klein ist“, frage ich mich, „wie sieht dann der Rest aus?“ Rechts neben jener Halle ist eine ebenso große zweite. Weiter geht es nicht, denn der Zugang zu allem, was jenseits liegt, ist mit grauen Betonblöcken zugemauert worden, die sich klar von dem im Vergleich zarten historischen Ziegelwerk absetzen. Einige frühere Besucher*innen haben sich auf der Mauer verewigt: Jemand dürfte mit weißer Kreide am 22.5.1982 ein Peace-Zeichen hinterlassen haben. Christopher und René haben sich ebenfalls in Weiß am 6.9.87 verewigt, an einer anderen Stelle steht mit Schwarz „Christoph + Gregor was here Di 24.6.96“. Allerdings war der 24. Juni 1996 ein Montag. Irgendwer hat wohl einmal versucht, die Mauer mit den Unterschriften zu durchbrechen. Der Strahl der Scheinwerfer lässt erkennen, dass auch auf der anderen Seite der Mauer großzügige Räume liegen. Kalte Luft zieht durch das Loch. Zur Vorstellung der ehemaligen U-Verlagerung als Jugendtreffpunkt passen zertretene und etwas verblichene Memphis-Classics- und Maverick-Zigarettenpackungen mit Design aus den 80ern, Fanta-Dosen mit Design aus den 90ern, die auf dem Boden verstreut liegen, verworren im Staub liegendes Kassettenband, ein verwittertes Sofa und daneben liegende bunte, leere Plastikverpackungen, in denen sich vielleicht einmal Chips befunden haben.
Sie deuten jedenfalls darauf hin, dass es bis in die 90er-Jahre wesentlich einfacher war, den alten Komplex zu erreichen. Heute sind die offensichtlichen Zugänge zugemauert. Auch einige Katzen haben sich irgendwann in die unterirdischen Räumlichkeiten verirrt und sind durch das Klima teils mumifiziert worden, teils bereits zum Skelett verwittert.
Wir schauen uns in jedem Raum um, der zugänglich ist. Jerry macht uns auf Schrift an der Wand aufmerksam, zeigt uns, wo seiner Ansicht nach Durchgänge zugemauert wurden, wo es vielleicht weiter in die Tiefe oder in die Höhe gehen könnte, wenn man nicht nach drei Sprossen am Ende eines Schachts angekommen wäre oder die Sprossen nicht so spröde wären, dass sie unter Gewicht abbrechen. Über den Hallen soll es angeblich weitere Räumlichkeiten geben. Darauf deutet auch eine durchgerostete Winde hin, die neben einer kreisrunden Auslassung in der Decke eines Raums hängt. Bevor wir den Rückweg antreten, führt Jerry uns durch ein Loch in einer Ziegelwand und vorbei an ominösen weiß-gefliesten Schächten zu jener Stelle, an der ein paar Stufen direkt in eine Ziegelmauer führen. Jerry meint, hier habe ein Notausgang gelegen. Feine Wurzeln haben sich ihren Weg an Ziegeln vorbei und die Mauer entlang aus der äußeren Wildnis in die innere gebahnt.
Zurück in die Gegenwart
Vor Aufregung habe ich vergessen, auf die Uhr zu schauen, um festzustellen, wieviel Zeit wir unter der Erde verbringen. Sicher mehr als eine halbe Stunde, aber eine Stunde ist vielleicht etwas zu viel geschätzt. Jedenfalls ist die Kälte der Hallen in meinen Knochen angekommen. Ich hoffe, dass wir rechtzeitig an der Oberfläche ankommen, sodass ich wieder Empfang habe und meine beste Freundin nicht glaubt, sie müsse Alarm schlagen. Die Leiter auf dem Bauch liegend am Seil wieder in die Röhre zu ziehen, stellt sich als schwieriges Unterfangen heraus, gelingt schließlich aber mit vereinten Kräften. Jerry ist das Schlusslicht. Wir haben ihm das Seil hinuntergelassen, an dem vorher die Leiter gehangen ist und mit dessen Hilfe er in die Röhre klettert. Draußen angekommen bin ich erleichtert darüber, dass alles gut gegangen ist, und erschöpft. Die Luft des Märzabends kommt mir im Verhältnis zu jener unter der Erde angenehm mild vor. Ich blicke auf die Uhr auf meinem Smartphone: 19.36 Uhr. Sofort gebe ich meiner besten Freundin Bescheid, dass ich gut an der Oberfläche angekommen bin. Jerry hat daran gedacht, feuchte Tücher einzupacken, mit denen wir uns die Hände abwischen. Wir packen unsere Sachen zusammen und schlagen uns wieder durchs Gebüsch in Richtung Zivilisation.
Auf dem Heimweg fühle ich eine seltsame Distanz zu den Menschen, an denen ich vorbeikomme. Sie sehen eine junge Frau in staubiger Sportkleidung und mit zerzausten Haaren, die einen wasserfesten Beutel um ihren Oberkörper geschlungen hat. Was auch immer sie sich vorstellen, sie kommen ganz bestimmt nicht auf die Idee, dass ich gerade durch eine Betonröhre gekrochen und über ein Seil und eine Leiter in ehemalige Industriehallen geklettert bin, die während des Kriegs zur Produktion kriegsrelevanter Güter dienten und heute als vergessene Zeitkapseln unter unseren Füßen liegen.
Epilog
Jerrys Ausstellung konnte aus bekannten Gründen nicht stattfinden. Er plant auch keine Ausstellung, bis die Corona-Pandemie endgültig Geschichte ist. „Ich möchte keine Menschen draußen warten lassen, das ist auch zach.“ Er möchte, dass seine Ausstellung problemlos ablaufen kann. Derzeit arbeitet er an einem anderen kreativen Projekt: Aus einem Luftschutzbunker durfte er Ziegelsteine mitnehmen, die er zu Souvenirs für Menschen machen möchte, die sein Projekt Vergessenes Wien unterstützen wollen. Er schneidet von einem Ziegelstein eine Scheibe ab, setzt sie vor einer schwarzen Oberfläche und in einem Rahmen mit einem hinter dem Ziegel befestigten Beleuchtung in Szene.
Für alle leicht während eines Stadtspaziergangs zugänglich sind Wiens versteckte Innenhöfe und Durchgänge. Den Flakturm im Augarten könnt ihr mit einem Punsch in der Hand betrachten gehen. In Wien vergeben wir Ende Februar übrigens unsere 1000things Awards – stimmt jetzt für eure Lieblingslokale ab!
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