Ute Bock Haus: Vermächtnis einer Bockigen
Jenen helfen, die nirgends Hilfe bekommen, das hat sich Ute Bock zur Lebensaufgabe gemacht. Nach ihrem Ableben im Jahr 2018 trägt ihr Verein dieses Vermächtnis in ihrem Sinne weiter. Wir haben das Ute Bock Haus besucht und uns selbst ein Bild gemacht.
Ute Bock ist zweifellos eine prägende Figur des kollektiven politischen Bewussteins in Österreich. Obwohl sie sich selbst wohl nicht in erster Linie als politisch bezeichnet hätte. Um Politik ging es Bock nicht im Sinne parteipolitischer Querelen und Polarisierungen, sondern im Sinne einer grundlegenden Veränderung. In erster Linie ging es ihr aber ums Helfen und um jene, die sonst nirgends Hilfe bekommen. Das klingt einfach und pathetisch, und beides war es nicht. “Dass ich versuche zu helfen, wenn einer was braucht, ist nicht gut, sondern normal”, ist nur eines von vielen Zitaten, die die unsentimentale, pragmatische und unverhandelbare Mitmenschlichkeit Bocks belegen.
Das Haus in der Zohmanngasse in Favoriten, in dem mittlerweile Geflüchtete aus über 40 Nationen untergebracht sind, war ursprünglich ein Gesellenheim, in dem Bock ab 1969 als Erzieherin arbeitete. Ab 1976 leitete sie es, bis im Herbst 1999 Polizisten das Heim stürmten und im Zuge der umstrittenen “Operation Spring” 30 afrikanische Geflüchtete wegen Verdachts auf Drogenhandel festnahmen. Auch gegen Bock wurde ermittelt, die Anklage wurde aber rasch wieder fallengelassen. Nur wenig später zeichnete man sie als erste Preisträgerin mit dem Ute-Bock-Preis für Zivilcourage von SOS Mitmensch aus. In den 90ern waren immer mehr unbegleitete Jugendliche im Heim aufgeschlagen, die vor den Kriegen in Ex-Jugoslawien, dann auch aus Afrika geflohen waren. Die Razzia beschrieb Bock später als eine Art Erweckungsmoment, sie habe bis dahin „gedacht, die Menschen seien grundsätzlich anständig. Danach war ich mir ganz und gar nicht mehr sicher.”
Pension im Dienst des Ehrenamtes
Nach ihrer Pensionierung im Jahr 2000 widmete Bock sich gänzlich ihrem ehrenamtlichen Engagement, gründete 2002 mit Michael Havel zusammen den Verein Ute Bock, der im 2. Bezirk angesiedelt war, bis Hans Peter Haselsteiner 2011 das mittlerweile leerstehende Haus in der Zohmanngasse über die Stiftung Concordia für sie kaufte. 2018 ist sie nach kurzer schwerer Krankheit im Kreise ihrer Schützlinge verstorben. Zu ihrem Gedenken flutete kurz darauf ein Lichtermeer den Wiener Heldenplatz. Es wäre wünschenswert, wenn man Menschen wie Ute Bock in Österreich nicht mehr brauchen würde. Oder wenigstens nicht so dringend. Das beweisen jüngst etwa die Zelte, die in den vergangenen Wochen in manchen Bundesländern aufgestellt wurden, um Geflüchtete darin unterzubringen, weil zwar die Bundesquartiere ausgelastet sind, aber alle Bundesländer mit Ausnahme von Wien und dem Burgenland die Quote zur Unterbringung Geflüchteter nicht erfüllt haben.
Bockig bleiben
In der Zohmanngasse wollen die mittlerweile 22 fest angestellten Mitarbeiter*innen und Dutzenden Ehrenamtlichen des Vereins das Vermächtnis Ute Bocks weitertragen, man bleibt “bockig” im besten Sinne. Das ist spürbar, Bock ist spürbar. Zwischen Stimmengewirr vor dem Infodesk, freiwilligen Helfer*innen bei den Lebensmittelspenden im Keller und ein- und ausgehenden Bewohner*innen ist es, als wäre sie nur kurz eine Runde um den Block gegangen. Vor dem Zimmer, in dem sie verstorben ist, hängt ein großes, buntes Porträt von ihr, eine Stange zum Abstützen an der Wand gegenüber zeugt von ihrer Krankheit. Aber Bock wäre es wohl nicht besonders recht gewesen, würde sich dieser Artikel nur um ihre Person drehen. Immerhin drängte sie nie gerne ins Rampenlicht, nur wenn es nötig war.
Der wichtigste Wirkungsbereich des Vereins ist auch heute noch die Unterbringung. In dem ehemaligen Wohnheim kommen etwa 90 Personen in 77 Wohneinheiten unter, entweder in Einzelzimmern oder kleinen Apartments für Familien. Die Zimmer sind mit Waschbecken, Bett und Kasten ausgestattet. Küche, WC und Bad teilen sich die Bewohner*innen der einzelnen Stockwerke miteinander. Außerdem stellt der Verein noch 50 externe Wohnungen für Paare, alleinerziehende Mütter und größere Familien. “Unser Fokus in der Wohnbetreuung ist, dass wir jene unterstützen, die gar nichts haben. Für alle anderen gibt es bereits Einrichtungen, an die sie sich wenden können”, sagt Maren Riebe, die die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Vereins leitet. “Das war der Ansatz von Frau Bock und wir versuchen, das genauso weiterzuführen.” Etwa die Hälfte der Menschen, die im Haus in der Zohmanngasse wohnen, haben wirklich “gar nichts”, was bedeutet, dass der Verein die komplette Versorgung für sie übernimmt.
Jenen helfen, die gar nichts haben
Wie es sein kann, dass Menschen in einem Land wie Österreich “gar nichts” haben? Geflüchtete im Asylverfahren, das mehrere Jahre dauern kann, bekommen sie eine Grundversorgung von 165 Euro im Monat für Miete und 260 Euro für Lebenshaltungskosten und sind krankenversichert. Das gilt auch für subsidiär Schutzberechtigte, also jene, deren Asylantrag abgewiesen wurde, deren Leben oder Gesundheit in ihrem Herkunftsland aber bedroht wird. Wenn Asylwerber*innen ihren Wohnsitz in ein anderes Bundesland wechseln, verlieren sie Grundversorgung und Krankenversicherung. Das ist allerdings nur einer der Gründe.
Komplexes Asylsystem
Menschen, die ein Asylverfahren in erster Instanz beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) hinter sich haben und abgewiesen wurden, können dieses Urteil in zweiter oder dritter Instanz anfechten – Asylwerber*innen bleiben bis zum Abschluss der zweiten Instanz in der Grundversorgung, in manchen Bundesländern wie Wien auch noch bis zur dritten und damit letzten Instanz des Asylverfahrens. Die Fehlerquote beim BFA liegt übrigens bei über 40 Prozent (Stand: 2021). Ein Grund, warum diese Mühlen langsam mahlen, oft Jahre brauchen.
Sollte das Urteil in dritter Instanz immer noch negativ ausfallen, folgt der Abschiebebescheid. Wobei auch dann oft noch nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind. Riebe erinnert in dem Zusammenhang an die rechtswidrigen Abschiebungen der Kinder nach Georgien und Armenien im Vorjahr – der Fall Tina ging durch die Medien. “Auch eine Familie von uns im Haus war betroffen und wurde nach Armenien abgeschoben. Zu wissen, dass der Junge, der damals 16 war und eineinhalb Jahre vor seinem Schulabschluss stand, jetzt in Armenien an der Front steht, ist hart”, sagt Riebe. Außerdem gibt es Herkunftsländer, in die man faktisch gar nicht abschieben kann. Riebe nennt als Beispiel den Irak, der niemanden zurücknehme, der*die nicht freiwillig zurückkomme. Die Menschen fallen aber aus dem Grundversorgungssystem in Österreich. Dazu kommt noch: “Sobald sie auf der Straße von der Polizei aufgehalten werden, was bei Menschen, die nicht weiß sind, häufiger passiert, dann kriegen sie eine Strafe [von 500 bis 2.500 Euro] wegen illegalen Aufenthalts im Land. Irgendwann müssen sie ins Gefängnis, weil sie das nicht zahlen können. Wenn sie aus dem Gefängnis rauskommen, kriegen sie eine Rechnung”, erklärt Riebe.
Manche der Bewohner*innen im Ute Bock Haus sind nur relativ kurz hier, bis sie einen Aufenthaltsstatus bekommen haben oder nicht. Andere sind bereits mit Frau Bock gekommen und höchstwahrscheinlich dauerhaft auf ihre Unterkunft hier angewiesen. “Leider gehören auch Abschiebungen hier zur Realität”, sagt Riebe. “Aber wenn es positive Geschichten gibt, ist es umso schöner.” Sie erinnert sich an einen Bewohner, der zwölf Jahre lang auf seinen Aufenthaltsstatus gewartet hat und jetzt endlich die Bestätigung bekam, dass sein negativer Bescheid aufgehoben wurde, weil ein Rechtsfehler passiert war. “Da sind hier alle Dämme gebrochen.”
Beratung und Soforthilfe
Während wir mit Maren Riebe in einem kleinen Raum abseits sitzen und unser Interview führen, herrscht draußen vor dem Infodesk emsiges Kommen und Gehen, der Warteraum ist fast voll. Neben der Beratung innerhalb der Wohnbetreuung bietet der Verein auch eine offene Sozialberatung an, die sich an alle Geflüchteten in Wien richtet. Die Berater*innen sprechen über zwölf Sprachen, oft geht es in den Gesprächen um Alltagsfragen wie Wohnungssuche, Einschulungen oder Öffi-Tickets. Teil dessen ist der Post- und Meldeservice, eine der wesentlichen Errungenschaften von Ute Bock. Weil Menschen, die keine fixe Meldeadresse haben, aus dem Asylverfahren fallen, können sie im Ute Bock Haus ihre Post empfangen. 350 Personen seien laut zurzeit hier gemeldet, inklusive der etwa 90 Bewohner*innen.
Daneben gibt es hier auch die Soforthilfe: Freitags versorgt die Lebensmittelausgabe die Klient*innen der Sozialberatung. Die Lebensmittel dafür kommen von der Wiener Tafel. Im Untergeschoss des Hauses sortieren an diesem Freitagvormittag einige Ehrenamtliche die Spenden in Papiersackerln nach einer Liste, auf der die Familien und die Anzahl der Personen, für die die Sackerln bestimmt sind, vermerkt sind. Das muss schnell gehen und wirkt eingespielt – viele ehrenamtliche Mitarbeiter*innen helfen hier schon seit Jahren mit. 300 Menschen sollen an diesem Freitag etwa mit Lebensmitteln versorgt werden. In ein paar weiteren Räumen den Gang runter werden Sachspenden ausgegeben von Schuhen und Kleidung über Kinderspielsachen bis hin zu Geschirr und Kochtöpfen. Wichtig dabei sei, dass die Spenden in gutem Zustand in der Zohmanngasse ankommen, also weder kaputt noch verschmutzt sind. Aussortieren kostet Zeit und Geld und beides ist hier denkbar knapp.
Zivilcourage in Wellen
Die Spendenbereitschaft innerhalb der Bevölkerung war besonders in der ersten Zeit des russischen Angriffs auf die Ukraine hoch, auch der Ute-Bock-Verein hat die Belegung um 20 Prozent erhöht, bekam Wohnungen zur Verfügung gestellt und Ähnliches. “Wir merken das immer, wenn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf einen Missstand in der Welt fällt”, sagt Riebe. “Die Ukraine ist sehr nah und alles ging sehr schnell. Im Unterschied dazu: Als Kabul vor einem Jahr gefallen ist, hat es gedauert, bis die Geflüchteten hier waren, weil es keine legalen Reisewege für Geflüchtete gibt.” Prinzipiell sei ein zivilgesellschaftliches Engagement natürlich wünschenswert, genauso verständlich sei es aber, dass es mit der Zeit auch wieder abklingt, allein schon aus Zeitgründen. Das habe man hier schon bei der Flüchtlingskrise 2015 gesehen.
Manche helfenden Hände sind aber doch gekommen, um zu bleiben. So wie die von Diego etwa, der gerade die Sachspendenausgabe vorbereitet, während nebenan die Lebensmittel sortiert werden. Der gebürtige Kolumbianer spricht neben Spanisch auch Deutsch, Englisch, Französisch und Italienisch und arbeitet seit fünf Jahren ehrenamtlich in der Kleiderausgabe, immer montags und freitags. Außerdem betreute er den Punschstand auf der Mariahilfer Straße, der heuer leider nicht stattfinden kann. “Und ich bin der Weihnachtsmann”, grinst er, für die Kinder im Bildungszentrum, das es seit fünf Jahren in der Inzersdorferstraße gibt und kostenlose Kurse für alle Kinder und Erwachsene mit Fluchtbiografie anbietet, vom Deutschkurs bis zur Lernbetreuung, ganz nach dem Leitspruch: “Bildung darf kein Privileg sein.” Voriges Jahr konnte das Weihnachtsfest wegen Corona nicht stattfinden, also gab es eine To-go-Ausgabe mit Diego als Weihnachtsmann und Maren Riebe als Weihnachtselfe an seiner Seite. Zum Ute-Bock-Verein ist er gekommen, weil er 2015 im Internet nach einer Möglichkeit gesucht hat, um zu helfen.
Identitärer Aufmarsch
Die Reaktionen sind allerdings nicht immer nur positiv. Trauriger Höhepunkt war etwa die Belagerung des Ute-Bock-Hauses von etwa 20 Identitären im April dieses Jahres. Sie skandierten, zogen Banner auf und zündeten Rauchbomben. In der Vergangenheit hatte man bereits mit Vandalismus und Beschmierungen zu tun, besonders wenn asylpolitische Themen wieder einmal ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt wurden. Aber ein Angriff in diesem Ausmaß sei ein neuer Härtegrad. “Ich hoffe sehr, dass das ein Einzelfall bleibt”, so Riebe. Wobei das Wort “Einzelfall” sich in Österreich in diesem Zusammenhang mittlerweile leider selbst ad absurdum geführt hat.
#wirsindutebock
Wie kann man helfen kann? Das Motto lautet “#wirsindutebock”. Wir alle. Jede*r kann Teil davon sein, indem man zum Beispiel Spendenaufrufe des Vereins auf Instagram teilt oder den Newsletter abonniert. Reichweite ist ein wesentlicher Faktor für Hilfsorganisationen. Wie schnell sie Fahrt aufnimmt, hat man hier in der Vergangenheit bereits gesehen: “Als die Geflüchteten aus der Ukraine kamen, hatten wir keine Decken mehr. Also haben Menschen Möbelhäuser unter unserem Beitrag getaggt und so ist eine Kooperation mit IKEA entstanden”, erzählt Riebe. Sachspenden kann man immer dienstags und donnerstags im Haus abgeben, auf der Website und in den sozialen Netzwerken wird regelmäßig geteilt, welche Spenden akut benötigt werden. Es macht verständlicherweise wenig Sinn, jetzt im Winter die ausgemisteten Sommerkleider vorbeizubringen. Großen Bedarf gibt es etwa immer an festen Männerschuhen, momentan sucht der Verein verstärkt nach Weihnachtsgeschenken für die Kinder.
Will man ehrenamtlich mitarbeiten, hält der Freiwilligen-Newsletter auf dem Laufenden, wo Bedarf besteht. Das reicht von der Spendenausgabe über das Bildungszentrum bis zum Geschenkeverpacken für Weihnachten. Dann gibt es auch noch den Ute-Bock-Merch im Onlineshop, wie zum Beispiel die T-Shirts, die fair und zusammen mit dem sozioökonomischen Betrieb “Fix und Fertig” der Suchthilfe produziert werden. Vor allem hilft aber natürlich finanzielle Unterstützung, um die laufenden Kosten abzudecken. Und da am besten regelmäßige Spenden, weil sie für mehr Planbarkeit sorgen. Oder wie Ute Bock es 2012 in einem Interview mit der Presse ausdrückte: “Geld allein genügt zwar nicht, aber ohne Geld geht gar nichts. Was soll ich machen, wenn ein Ehepaar mit drei Kindern ohne einen Groschen Geld auf der Straße steht? Um denen zu helfen, brauche ich Geld.”
Unter dem Schlagwort Engagement findet ihr noch viele weitere Artikel zu unserem Schwerpunkt. Wir haben uns zum Beispiel auch das Neunerhaus genauer angesehen.