Vom Gewinnen und dem Mut, es zu versuchen: Die Eiskunstlauf-Meisterschaft der Special Olympics
„Without a song or a dance, what are we?“, singen ABBA in „Thank You For The Music“, das Anna für ihre Kürmusik ausgewählt hat. Ja, was wäre das Leben ohne singen, tanzen – oder eistanzen? Wahrscheinlich ziemlich öde. Deshalb haben wir die Staatsmeisterschaft der Special Olympics im Eiskunstlauf besucht und die konkurrenzlose Staatsmeisterin Anna Manolakas getroffen.
Draußen fletscht die Sonne stolz ihre frisch gebleachten Zähne. Drinnen schlittern schon die ersten Kufen übers Eis. Nur eine Fensterfront trennt in der Halle 3 des Erste Bank Stadions in Kagran Eislaufende drinnen von Beachvolleyball-Spielenden draußen. Winter und Sommer in friedlicher Koexistenz. Die Eisläufer*innen beeindruckt der sprühende Frühling um sie herum ohnehin kaum. Viele von ihnen trainieren das ganze Jahr über auf dem Eis – ob Sommer oder Winter ist also egal. Und besonders heute konzentrieren sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf das, was innerhalb des Rings passiert, darauf, die Bewegungsabläufe richtig zu memorieren und die Choreographie zu meistern. Manche tun sich dabei aufgrund ihrer besonderen Voraussetzungen schwerer, manche leichter. Doch was zählt, ist vor allem der Mut, das Trotzdem, das hier jeder und jede Einzelne der geistigen Behinderung oder Mehrfachbehinderung entgegenhält: „Lasst mich gewinnen! Aber wenn ich nicht gewinnen kann, dann lasst es mich mutig versuchen!“, lautet der Athleteneid der Special Olympics. Diesmal ist es die österreichische Meisterschaft im Eiskunstlaufen, die Menschen unterschiedlichen Könnens, Geschlechts und mentaler Konstitution aufs Eis ruft.
Staatsmeister in unterschiedlichen Levels
Die Special Olympics sind die „größte internationale Sportbewegung für Menschen mit mentaler Beeinträchtigung“, heißt es auf der Homepage. Nicht zu verwechseln mit den Paralympics, an denen Menschen mit körperlicher Behinderung teilnehmen. 1968 rief Eunice Kennedy Shriver, die Schwester des US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, die Special Olympics ins Leben. Ihr Einsatz rührt von persönlicher Erfahrung her, denn ihre Schwester Rosemary litt nach einer Lobotomie an einer mentalen Beeinträchtigung.
21 Teilnehmende fahren heute auf dem Eis um den Staatsmeistertitel. Und davon gibt es hier nicht nur einen: Je nach der Stärke der geistigen Behinderung oder Mehrfachbehinderung sind die Athlet*innen in unterschiedliche Levels eingeteilt und nach Geschlecht getrennt. In jedem Level kann einer oder eine den Titel holen. Das war aber längst noch nicht alles – das Eis eröffnen die Vienna Butterflies, eine Synchron-Eiskunstlauf-Mann-und-Frauschaft. Dann gibt es da auch noch den Paarlauf, der wiederum unterteilt ist in Paare, die beide eine geistige Behinderung haben, und sogenannte Unified-Paare, von denen nur ein Part mental beeinträchtigt ist.
Star in Schlittschuhen
Während die Juror*innen gegenüber der noch locker befüllten Tribüne Platz nehmen, steigt in den Garderoben die Aufregung. Doch sind es weniger zermürbender Druck und Stress, die hier die Luft zum Knistern bringen, sondern eine spürbare Mischung aus Vorfreude und Nervosität. Paare gehen backstage noch einmal ihren Ablauf durch, Einzelläufer*innen pendeln immer wieder zwischen Garderobe und Eis hin und her. Alle kennen sich, und die, die man noch nicht kennt, sind ohne Umschweife mit von der Partie. Am Gang vor der Damenumkleide steht eine junge Frau in Trainingsanzug der Special Olympics und Eislaufschuhen, umringt von einem kleinen Mädchen in Glitzerkleid und ebenfalls Eislaufschuhen und seiner Mutter. Wortfetzen dringen durch das Gewurdel: „Sie wollte unbedingt die Anna kennenlernen, sie bewundert dich so sehr“, sagt die Mutter zu der jungen Frau mit dem dunklen, dichten Haar. Anna Manolakas ist eindeutig der Star des Nachmittags. Sie ist die einzige Läuferin, die in Level vier antritt – der höchste Eiskunstlauf-Level der Special Olympics, der in Österreich gefahren wird. International gibt es bis zu sechs Levels.
Nach der Eröffnung durch die Vienna Butterflies, bei denen Anna ebenfalls mitfährt, und den Bewerben der Levels eins und zwei wird Anna aufs Eis gerufen. Vier Minuten hat sie Zeit, sich einzufahren. Selbstbewusst betritt sie die glatte Fläche und dreht routiniert ein paar Runden, deutet Drehungen an, übersteigt ab und zu und probiert einige Figuren aus. Gleich ist die Aufwärmrunde vorbei und sie entledigt sich im Fahren ihrer Trainingsjacke. In der Mitte der Eisfläche wartet sie darauf, dass die ersten Takte von „One Night in Bangkok“ ertönen, und legt los. Eine Figur folgt der anderen, einbeinig zieht sie im Schwan ihre Kreise oder greift im Schmetterling ihr hinteres Bein und zieht es rückwärts hoch. Nur die manchmal etwas gröberen Bewegungsabläufe unterscheiden ihren Lauf von Läufer*innen ohne mentale Beeinträchtigung. Geringfügig nur, denn ihr Lauf ist trotzdem oder gerade deshalb einnehmend und gefühlvoll.
Harte Arbeit…
Am Ende verabschiedet Anna sich mit einer eleganten Verbeugung. Ihre Mitbewerber*innen werfen Gegenstände und Schokolade aufs Eis, wie übrigens nach jedem Auftritt. Anna fährt mit einem kleinen Stoffhund im Arm ab, sichtlich erleichtert, aber dennoch angespannt. In einer der Garderoben wartet ihre Mutter Franziska Manolakas, mit der sie den Lauf kurz resümiert. Sie hat inzwischen wieder ihren Trainingsanzug angezogen und nimmt ein paar kräftige Schlucke aus ihrer Trinkflasche. „Anna hat eine Entwicklungsverzögerung mit Intelligenzminderung“, erklärt ihre Mutter. Das wurde bereits im Kindergarten festgestellt. Nach Volksschule, Neuer Mittelschule, einem Wirtschaftslehrgang mit Integration und einer Teilausbildung im Institut Keil für Küche und Service arbeitet die 28-Jährige seit sechs Jahren halbtags in einer sozialen Einrichtung als Servicekraft.
Zum Eiskunstlauf ist Anna in der Volksschule gekommen, als es hieß, dass die Kinder eislaufen gehen würden. Ihre Mutter wollte ihr das Ganze vorab näherbringen und organisierte ihr in der Kunsteislaufbahn Engelmann erst einmal eine Trainerin. „Das Eislaufen hat für mich eigentlich als Therapie angefangen“, erzählt Anna. Schnell habe sich gezeigt, dass der Sport positive Auswirkungen auf ihre Entwicklung hat, sowohl motorisch als auch in Sachen Selbstbewusstsein. „Sie hat gemerkt, dass man nicht aufgeben darf“, sagt Franziska Manolakas. Besonders schwierig sei für Menschen mit mentaler Behinderung nicht die Bewegung an sich, sondern die Steuerung der Bewegung und das Merken der Bewegungsmuster. „Die Sprünge hatte ich eigentlich schnell raus“, erklärt Anna. „Besonders schwer sind für mich die Pirouetten.“
…die sich auszahlt
Was Anna in etwa 17 Jahren Eiskunstlauf bereits erreicht hat, hat sie sich hart erarbeitet. Mitleid ist weder erwünscht noch angebracht, sondern Respekt: Dreimal ist Anna bisher bei den Weltspielen der Special Olympics für Österreich angetreten. 2009 ging sie das erste Mal in den USA an den Start und holte im Level drei die Goldmedaille nachhause. 2013 belegte sie in Südkorea den dritten Platz, 2017 in Graz den vierten. 2012 wurde sie in der langen Nacht des Sports als Sportlerin des Jahres in der Kategorie Special Olympics ausgezeichnet.
2021 will Anna unbedingt bei den nächsten Weltspielen in Schweden antreten. Da das olympische Komitee in Washington den teilnehmenden Staaten Kontingente in den einzelnen Levels vorgibt, für die man sich erst einmal qualifizieren muss, Anna aber die einzige in ihrem Level ist, stehen die Chancen mehr als gut. Was es ist, das sie zum Eislaufen antreibt? „Das Schönste daran ist, dass niemand sonst auf dem Eis steht, sondern ich alleine. Da kann ich mich ganz auf mich selbst konzentrieren“, sagt sie.
Nach der Pflicht kommt die Kür
Langsam wird die Zeit knapp, denn Anna muss nach ihrem kurzen Pflichtprogramm noch eine Kür laufen. Als einzige Teilnehmerin – die Kombination aus Pflicht und Kür gilt erst für die höheren Levels, das ist eine neue Regelung. Die Musik dazu, die Anna selbst aussucht, ist – passend zur Vorfreude auf Schweden – ebenfalls von Abba: Thank you for the music. Sie schnappt ihre Trinkflasche und eilt in die Damengarderobe zurück, um sich die Haare von einer Mitläuferin machen zu lassen.
Und dann ist es so weit: Wieder fährt Anna sich vier Minuten lang ungerührt ein, wieder positioniert sie sich in der Mitte des Eises. Abba ertönt und Anna gleitet los. Zwei Minuten und 25 Minuten lang springt, dreht und braust sie übers Eis, ganz bei sich, vertieft in die Musik. Ihre Konzentration färbt aufs Publikum ab. Die Mischung aus ausdrucksstarkem Lauf und mitreißender Musik fasziniert. Der Staatsmeistertitel ist Anna zwar ohnehin sicher, weil sie die einzige Bewerberin in ihrem Level ist. Aber mit ihrer Kür beweist sie einmal mehr, dass sie ihn redlich verdient hat.
Die Reportage ist 2019 entstanden und wurde aktualisiert.
Noch mehr zum Thema? Wir haben im Theater Delphin in Wien vorbeigeschaut. Was ihr in Österreich sonst noch unternehmen könnt, verraten euch unsere To Do’s.