Warum Darts für mich der sympathischste Sport der Welt ist
Ihre Spieler verkörpern Unsportlichkeit in Person, gleichzeitig inszenieren sich sich als Champions: Einlaufsongs, Party und Spitznamen – dazu eine betrunkene grölende Menge. Willkommen bei der Darts WM! Eine Liebeserklärung an den womöglich unsportlichsten Sport der Welt.
Alle Lichtkegel sind auf ihn gerichtet. Die Menge grölt. Der Saal ist dunkel. Die Stimme kündigt ihn an: den Flying Scotsman – Gary Anderson – the Champion of the World. Er schlägt die Hände über seinem Kopf zusammen und sein Einlaufsong Jump Around von House of Pain ertönt. Er grinst in die Kamera: rahmenlose Brille auf der Nase, sein Trikot weit aufgeknöpft, ein Goldkettchen blitzt hervor, die Arme voller Tattoos und die Haare voller Gel. Die Hände der Zuseher*innen ringen nach ihm. Jeder will ihn berühren. Er klatscht Hände ab, küsst seine Frau, zwinkert der Blondine hinter ihm zu – im engen Kleid und mit tiefem Ausschnitt – und betritt die Bühne.
Der bierbäuchige Sport wird immer beliebter
Anderson ist typisch dafür, was diesen Sport so sympathisch macht: Die Gegensätze, die dabei aufeinander prallen. Gary Anderson sieht nicht gerade wie ein Gewinner aus, er ist aber der Darts-Weltmeister 2016. Die Helden des Darts sind schräge Gestalten und inszenieren sich als Champions mit eigenen Kunstnamen und Songs. Ihre Fans lieben sie dafür. Denn Darts zeigt Männer, wie sie eben auch mit am Stammtisch sitzen könnten. Gerade, weil die Sportler nicht wie Sportler aussehen und ihren Fans mehr ähneln als den aalglatten Athleten in den anderen Sportarten, liebe ich sie. Sie haben Bierbäuche, Männerbrüste, Doppelkinn und Glatze. Sie signalisieren den Zusehenden: Schaut her, ihr könnt reich und erfolgreich werden, so wie wir!
Dieses Jahr findet die Darts WM in London vom 15. Dezember 2021 bis zum 3. Jänner 2022 statt. Austragungsort ist der Alexandra Palace, eine Arena im Norden Londons, 96 Athlet*innen kämpfen um den Sieg. Der dreifache Darts-Weltmeister Michael van Gerwen wurde voriges Jahr von Gerwyn Price abgelöst – ob er den Titel heuer zurückerobern kann, bleibt abzuwarten. Mit Lisa Ashton und Fallon Sherrock mischen auch heuer wieder zwei Frauen das Spitzenfeld kräftig auf.
Spitzensport trifft Oktoberfest
Der unsportliche Sport gewinnt immer mehr an Beliebtheit und ich kann verstehen warum. Der Saal erinnert mit den Tischen und den Krügen eher an ein Oktoberfest als an eine sportliche Weltmeisterschaft – und die saufenden Fans sind auch noch verkleidet: Affen, Trumps, Bananen, Shreks, Schweine, Kühe und Joker stemmen Doppelliter zwischen Teletubbies und Weihnachtsmännern, während die Spieler*innen hochkonzentriert Pfeile werfen. Der schnellste Weg, das Ziel zu erreichen, also 501 Punkte auf null zu bringen, ist das perfekte Spiel – der sogenannte Nine-Darter. Da die Fans vermutlich viel zu besoffen sind, um genau zuzusehen, oder auch noch mitzuzählen, werden die Punkte im Saal ausgerufen. Und auch die sogenannten Caller genießen Kultstatus.
Zur Motivation stimmt das Publikum für ihre Held*innen immer wieder Hey Baby von DJ Ötzi an. Warum genau diesen Song, weiß keiner, aber er scheint ihnen zu gefallen. Ähnlich wie beim Boxen oder auch Wrestling hat jede*r Spieler*in seinen Einlaufsong. Wahre Fans kennen die Songs ihrer Spieler*innen auswendig. So betritt beispielsweise Gary Anderson immer die Halle zu Jump Around von House of Pain. Adrian Lewis hingegen zu Reach Up von Perfecto Allstarz. Aber nicht nur Proll-Musik wird gespielt. Manche Spieler*innen laufen auch zu Alternative-Songs von Kasabian, Kanye West oder Kings of Leon ein. Genauso aber zu Tina Turner oder eben auch DJ Ötzi. Alle bekannten Spieler*innen haben neben ihrem Song auch einen eigenen Spitznamen wie Jackpot, Mighty Mike, Maximiser, The Dutch Destroyer, Snakebite oder Flying Scotsman.
Perfekter Zeitpunkt für Darts
Auch der Zeitpunkt der Darts-WM von Dezember bis ins Neujahr hinein scheint nicht zufällig gewählt: In einer Zeit, in der jeder mit seinem angefressenen Winter-Weihnachts-Speck vor dem Fernseher sitzt, tut es so gut, mal nicht auf Sixpacks und Striche in der Landschaft zu schauen. Der Guardian erklärte das Phänomen so: “Wenn Sie sich grotesk übergewichtig vorkommen und ausgelaugt sind von Besäufnissen, ist Darts schlicht der angemessene Sport, sich besser zu fühlen… Dickbäuchige Männer mit Hemden wie Zirkuszelte, passen in diesen Tagen einfach besser als athletische Asketen.“
In den Werbepausen reihen sich dann Clips von Internet-Dating-Plattformen und Glücksspiel aneinander. Vermutlich auch kein Zufall, die perfekte Zielgruppe eben. Und weil sich die Spieler*innen so geschickt inszenieren, hat jeder natürlich seine Lieblinge und hatet gegen alle anderen. Ich persönlich vergöttere Raymond van Barneveld. Mit seinem kugelrunden Kopf, den Geheimratsecken und dem viel zu großen Trikot wirkt er furchtbar tollpatschig, gehört aber zu den ganz Großen Darts. Barney hat nicht nur selbst einen Spitznamen, sondern auch seine Fans tragen einen: die Barney Army. Egal, wo der Spieler im Land die Bühne betritt, seine Army folgt ihm. Zwar war van Barneveld kurzzeitig zurückgetreten, feiert heuer aber sein langersehntes Comeback.
In diesem Sport inszenieren sich augenscheinliche Verlierer zu Helden und dafür liebe ich Darts. Kaum ein Sport hat so viel Selbstironie und so sympathische Spieler. Die Inszenierung und der Humor macht in meinen Augen die Darts WM sehr viel unterhaltsamer als beispielsweise selbstverliebten Proleten beim Kicken zuzusehen.
Noch ein bisschen mehr Senf gefällig? Wir lassen uns über das Punschen aus.