Wie es war, in den 90ern ohne Fernseher aufzuwachsen
Zur Jahrtausendwende hin war das TV-Gerät für viele von uns der treue Begleiter durch Kindheit und Jugend. Aber nicht für unsere Redakteurin – was einige Hürden, aber auch Vorteile mit sich brachte. Und außerdem bekommt man von der Glotze ja eh nur viereckerte Augen.
Knapp zwei Jahrzehnte später erschüttert diese Aussage wohl niemanden mehr, in den späten 90ern löste sie allerdings erstaunte Blicke und eine Vielzahl an Folgefragen aus: „Wir haben keinen Fernseher zu Hause.“ Der Fernseher, in den heimischen Wohnzimmern um die Jahrtausendwende ein kleines Fenster zur großen weiten Welt hinaus, ist heute einer ganzen Glasfassade an Möglichkeiten gewichen: Das Internet im Allgemeinen und Streamingdienste im Speziellen haben dem klassischen Fernsehen den Rang abgelaufen. Geboren 1994, war ich allerdings in den Schulklassen stets die einzige, der mangels TV so manche Zerstreuung verwehrt und somit nur ein elendiges, allzu reales Dasein blieb. Zumindest sahen das wohl die anderen so – meine Geschwister und ich, wir fanden unsere fernsehlose Kindheit nämlich gar nicht so schlimm.
Kindheit im Ameisenkrieg
Genau genommen hatten wir sehr wohl einen Fernseher. Als Erbstück meiner Großeltern wartete der kleine quadratische Röhren-TV in der Abstellkammer auf bessere Zeiten – etwa auf Zeiten mit Antennendose inklusive Kabel-TV- und SAT-Anschluss. Die fehlte nämlich und das Einzige, was das kleine Kasterl bei Stromzufuhr zeigte, waren Ameisenkriege in Dauerschleife. So nannten wir Kinder das schwarz-weiße Flimmern am Bildschirm und warteten vergeblich auf einen spektakulären Plot Twist, der natürlich nie eintrat. Und so schleppten wir den empfangslosen, altersschwachen TV wieder in die Abstellkammer und damit war die Sache mit dem Fernseher für uns Geschwister erledigt.
Kennst du diese eine Show, in der…?
Die Antwort lautet: nein. Falls jemand von euch ebenfalls eine fernsehlose Kindheit in den vergangenen beiden Jahrzehnten durchlebte, der kennt sie: die vielen Themen, bei denen man einfach nicht mitreden kann. Über die Jahre hinweg haben sich die Gespräche in den Klassenräumen zwar von „Confetti TiVi“ und „Kiddy Contest“ langsam hin zu „Starmania“, „Simpsons“ und „O.C California“ entwickelt, mein Gesichtsausdruck aber blieb unverändert: nämlich ratlos. Zugegeben entgeht einem dabei doch einiges, von abendlicher Familienunterhaltung wie Singstar-Runden bis hin zu einer etwas breiter aufgestellten Allgemeinbildung. Bis vor Kurzem musste ich googeln, um mehr als zwei deutschsprachige Comedians aufzählen zu können und bitte fragt mich nicht, ob Hermann Maier seine Skikarriere mit Slalomfahren oder auf der Schanze verbracht hat. Wandten sich die Gespräche am Schulhof aber hin zur „Pummeligen“ bei „Germany’s next Topmodel“, die es trotz ihres empörenden Oberschenkelumfangs wieder eine Folge weiter geschafft hatte, hielt sich das Bedauern dann doch in Grenzen.
Faszination Dauerwebesendung
Fernsehen war für mich natürlich keine absolut jenseitige Beschäftigung, ab und zu wurde bei meinen Großeltern ferngeschaut oder bei Freundinnen und Freunden. Als Teenager entwickelten meine Geschwister und ich bei Großelternbesuchen schließlich ein besonderes Faible für MTV: Formate wie „Pimp my ride“ und „Date my mom“ sind meinem Herzen bis heute auf ganz spezielle Weise nahe. „Richterin Barbara Salesch“ auf Sat 1 war für mich wie ein Backstageband ins Himmelreich. Ihr seht – meine Ansprüche waren niedrig, was sich auch in einer anderen kuriosen TV-Leidenschaft offenbarte: Dauerwebesendungen. Während Leuten, die regelmäßig fernschauen, Werbepausen ungefähr so willkommen sind, wie Pendlerinnen und Pendlern der Verkehr auf der Wiener Südosttangente, so war für mich sogar die TV-Werbung besonders. Die Darstellung einer makellosen Welt, in der die gravierendsten Probleme mit dem richtigen Spülmittel beseitigt werden konnten, hatte etwas ungemein Beruhigendes. Dauerwerbesendungen waren dann die kulminierte Form dieser Heileweltfantasie: Dermaßen lebensbejahende Eigenschaften in einer einfachen Bratpfanne zu finden, wie es den Moderatorinnen über Stunden hinweg gelang, das war für mich pure Faszination.
Hier könnte man nun meinen, dass uns wohl doch etwas fehlte und wir ein freudloses Hinterwäldler-Dasein fristeten. Die Begeisterung am TV war aber meist nach einigen Tagen bei den Großeltern verflogen. Wer sich also fragt, in welch‘ grausamer, niederösterreichischen Sekte dieses arme Mädchen aufwuchs, der sei an dieser Stelle beruhigt: Es ist keinem obskuren Kult zuzuschreiben, dass wir unseren Lebensraum nie mit einem Fernsehgerät teilten, wir haben unsere Eltern dann doch nie ernsthaft darum gefragt.
Andere denken, man wäre sehr „belesen“
Nun nimmt man anscheinend an, dass ein Kind, das keinen Fernseher hat, viel liest. Leider kann ich euch hier nicht mit einer skurrilen Wendung überraschen, die meisten Abende habe ich wirklich mit dem Kopf in einem Buch verbracht. Über Tausende Stunden meiner Kindheit hinweg war meine Welt viel mehr eine der geschriebenen Schrift als der gesprochenen Sprache, was zu folgender Begebenheit führte: Oft habe ich Wörter zuerst schriftlich wahrgenommen, bevor ich sie jemals gehört habe. Einige Begriffe spreche ich bis heute nicht ganz richtig aus (Schickeria, Hygiene), weil ich sie als kleines Kind gelesen und innerlich mit falscher Vertonung abgespeichert habe. Ich sag’s, wie‘s ist: manchmal ein bisserl peinlich. Und das führt die Sache mit der „Belesenheit“ auch schon wieder ad absurdum, denn dadurch kommt man nicht gerade clever, sondern eher ein wenig unterbelichtet rüber.
Ein Stück vom Himmel: kino.to
In den späten 00er-Jahren wendete sich dann das Blatt: Das Internet hatte sich – entgegen der düsteren Prognosen von Zukunftsexperten der 90er Jahre – bereits etabliert. Ungefähr zur selben Zeit, als ich einen eigenen PC bekam, erschien schließlich auch die Website kino.to (später kinox.to) auf der verpixelten Bildfläche meines unförmigen Monitors. Einige von euch erinnern sich bestimmt an diese wundervolle, bedauerlicherweise nicht ganz legal betriebene Video-on-Demand-Site. So habe ich dann also doch noch herausgefunden, warum das Finale der 3. Staffel „O.C California“ viele Jahre zuvor die Gemüter in der Klasse gespalten hatte. Schließlich drehte sich der Spieß sogar um: Durchs Internet gewöhnte ich mich schnell an die Originalsprache amerikanischer Produktionen und kannte einige Serienfolgen schon, bevor sie meine Freundinnen und Freunde übersetzt im TV sahen. Allerdings konnte ich somit schon wieder nicht mitreden, um bloß keine Spoiler zu verraten – es blieb also verflixt. Mit dem Internet änderten sich überhaupt so einige Dinge: Nach und nach stellten viele Sender ihre Sendungen online zur Verfügung, auch die ORF-TVthek etablierte sich und spätestens seit Netflix ist ein fehlender TV-Anschluss nichts Ungewöhnliches mehr.
Einige Symptome meiner fernsehlosen Kindheit sind allerdings geblieben: Stellt euch eure Uroma mit dem akutellsten Smartphone vor, und ihr wisst ungefähr, was passiert, wenn man mir eine Fernbedienung in die Hand drückt. Diese Teile sind bis heute absolute Kuriositäten für mich. Insgesamt bin ich mit dem Leben ohne Fernseher aber zufrieden – Zugänge für Netflix, Sky und Co besitze ich jedenfalls bis heute nicht.
Ihr möchtet noch ein wenig tiefer in der 1000things Geschichtenkiste kramen? Hier erzählt euch unsere Redakteurin, warum Gesellschaftsspiele der reine Horror sind. Und wer über die Feiertage von der Stadt ins traute Heim am Land zurückkehrt, kennt sicher einige der Sätze, die wir als Landkinder nicht mehr hören können.