Raunzen & Reisen: Berlin und Wien – Leben in den unfreundlichsten Städten der Welt
Wir lieben Reisen, und ganz ehrlich: Wir lieben auch Raunzen. Weil beides wunderschön sein kann, teilen wir hier schamlos unsere Gedanken zum Ranking der unfreundlichsten Städte der Welt. Unsere Autorin Sonja hat in den Gewinnerstädten des diesjährigen und letztjährigen Ranking nämlich lange gelebt.
Backpack aufsetzen und die ganz große Freiheit spüren: Das ist zwar oft lebensverändernd und großartig, stellenweise aber auch ganz schön mühsam. Wir stellen den schillernden Insta-Filter rund ums Thema „Reisen“ mal aus und teilen unsere schonungslosen Gedanken zu allem rund ums Entdecken, Ausfliegen und Herumkommen.
Ich habe eine Tradition: Jedes Jahr Ende November setze ich mich an einen Text, bei dem ich mich zur unfreundlichsten Stadt der Welt äußere. Warum ausgerechnet ich diese Verpflichtung verspüre? Weil ich mich als Wiener Reisejournalistin in Deutschland lange in der Rolle einer ehrenamtlichen Ersatz-Tourismusministerin gesehen habe – und meine Heimatstadt lange als die unfreundlichste der Welt galt.
Süß und unfreundlich
Während in meiner neuen Heimat auf Zeit sämtliche meiner Aussagen wegen meines Dialekts grundsätzlich als süß bezeichnet wurden, mir bei der ersten Erwähnung meines Geburtsortes meist ein ehrfürchtiges “oooh” entgegen geraunt wurde und die Haltung Wien gegenüber an 364 Tagen im Jahr sehr positiv war, hatte ich mich Ende November stets zu verteidigen. Der Tag des Rankings war für mich ein Tag voller informeller Pressekonferenzen mit Freund*innen und Kolleg*innen, bei der ich mich zur Wiener Unfreundlichkeit zu äußern hatte.
Es ist das Ranking des Expat Insiders, das Zugezogene aus der ganzen Welt zu ihren Erfahrungen befragt und darauf basierend Wien jahrelang zur Unfreundlichkeits-Hauptstadt gekürt hat. Offensichtlich dürfte die Freude am Raunzen mittlerweile auch bei Expats angekommen sein – Wien belegt in diesem Jahr zumindest nur den drittletzten Platz.
Im vergangenen Jahr sind offenbar gleich zwei Städte unfreundlicher geworden: München hat sich den vorletzten Platz ergrantelt, und die frisch gekürte unfreundlichste Stadt ist ausgerechnet jene, in der ich die letzten sechs Jahre verbracht habe. Nun sitze ich also wieder hier und versuche, eine weitere Heimat und ihre vermeintliche Unfreundlichkeit verständlich zu machen.
Berlins größtes + ist auch das größte –
Ja, Berlin kann unfreundlich sein. Und nach sechs Jahren im Berliner Exil bin ich zurück in der Wiener Heimat oft positiv von der Herzlichkeit überrascht, die Fremde mir hier entgegenbringen. Berlin hat mir das abtrainiert, in Berlin schaut man kategorisch weg. Was viele an der deutschen Hauptstadt so lieben, ist zugleich ihr größtes Manko: Allen ist alles egal.
Nach sechs Jahren im Berliner Exil bin ich zurück in der Wiener Heimat oft positiv von der Herzlichkeit überrascht, die Fremde mir hier entgegenbringen.
Sonja Koller
Das gibt Raum, sich ohne Angst vor Verurteilungen auszuprobieren und führt sicher auch dazu, dass etwa die Berliner Mode so wild, frei und inspirativ ist und hier Trends geschaffen werden. Dabei hilft der Kodex: Niemand dreht sich auf der Straße um, niemand schenkt anderen zu viel Aufmerksamkeit – oder eigentlich überhaupt Interesse.
Man hat eben alles schon mal gesehen, wenn man ein paar Jahre in Berlin verbringt. Gepaart mit dem nicht ganz aus dem Nichts gegriffenen Klischee, dass man in Norddeutschland grundsätzlich nicht gerade aufeinander zugeht, führt das dazu, dass Berlin die anonymste Stadt ist, die ich kenne.
Bedeutet Großstadt automatisch Unfreundlichkeit?
Selbst im bedeutend größeren London fühlt sich das Zusammenleben durch die schrulligen, britischen Witzeleien an jedem Werbeplakat oder Info-Tafel und den Fakt, dass einen Wildfremde einfach “Love” nennen, viel freundlicher an. Alleine die Größe selbst macht eine Stadt also nicht zwingend unfreundlich. Zumal das im Rahmen der Studie von Expat Insider als freundlichste Stadt ausgezeichnete Mexico City über 20 Millionen Einwohner*innen hat.
Da ich in Berlin auch Expat war und das Ranking auf Erfahrungen von Menschen wie mir basiert, fühle ich mich berechtigt, noch eine Extraportion Senf draufzulegen: Klar, Feier-Freund*innen kann man in Berlin leicht finden. Hier gilt aber, zumindest meiner Erfahrung nach, die umgedrehte Regel weiche Schale, harter Kern. Zumindest brauchte es für das Aufbauen von tiefgehende Freundschaften einen bedeutend längeren Atem, als ich es gewohnt war. Berliner*innen, so alternativ sie auch wirken, teilen eben von sich aus nicht wahnsinnig viel und man muss sich erst beweisen, bevor man mit Freundlichkeit rechnen kann.
Mein Fazit: Man kann beide meiner Heimaten aus gutem Grund als unfreundlich bezeichnen und – um den Punkt zu beweisen – raunze ich dabei auch gerne mit. Die beiden Städte haben ihre Spitzenpositionen in dem Ranking aber aus gänzlich gegensätzlichen Gründen verdient: Wien ist unfreundlich auf eine uncoole, schrullige, aber traditionsreiche und einfach wahnsinnig witzige Art.
Berlin ist cool unfreundlich. Wie die Raucher*innen in der Ecke des Schulhofs, die sich für niemanden zu interessieren scheinen, aber einen im entscheidenden Moment trotzdem wissen lassen, dass man unerwünscht ist.