Wieso das Hahnenkamm-Rennen jedes Jahr aufs Neue fasziniert
Jahrein, jahraus stürzt sich die männliche Ski-Elite auf den Hängen des Hahnenkamm in die Tiefe. Und Tausende bejubeln sie dabei. Doch ist es die Waghalsigkeit dieses Rennens allein, die die Besucher*innen anzieht? Was steckt dahinter? Und wie sehen das die unterschiedlichen Gruppen? Wir haben bei einem Vorläufer, einer Besucherin und einem Kellner genauer nachgebohrt.
Kitzbühel platzt aus allen Nähten. Fans und Promis von nah, von fern strömen in die Gamsstadt und versetzen sie in Ausnahmezustand. Alpine Gladiatoren stürzen sich auf ihren zwei Brettern waghalsig hinab in den Abgrund, während unten gejubelt und gefeiert wird. Für die einen ist es der Höhepunkt der Wintersport-Saison, für die anderen willkommener Anlass zum Gesichtsbad im aufgemascherlten Gewurdel. Dass die Rede vom alljährlichen Hahnenkamm-Rennen ist, hat den meisten wahrscheinlich längst schon gedämmert. Natürlich. Gehört doch der Skizirkus generell und besonders der in Kitz schon fast irgendwie zur nationalen Allgemeinbildung. Auf jeden Fall trägt er aber zum nationalen Image bei. Das alles und unsere rasende Neugierde haben für uns die Frage aufgeworfen, die wir prompt einigen Involvierten an den Kopf geworfen haben: Was steckt wirklich dahinter, hinter der Faszination Hahnenkamm-Rennen?
Fast 100.000 Zuschauer
Bereits 1931 fand das erste „Internationale Hahnenkamm-Rennen“ statt. Unterbrochen vom Horror des Zweiten Weltkriegs, wurde es heuer (Anm. der Redaktion: der Artikel bezieht sich auf das Jahr 2020) zum 80. Mal veranstaltet. Seit den 70ern steigt die Publikumszahl rasend an. Waren es 1977 noch 21.560 Besucher*innen, so waren es im Vorjahr stolze 85.500. Klarer Rekordhalter ist das Jahr 1999 – da pilgerten rund 99.000 Ski-Fans nach Kitzbühel. Moment – fast 100.000 Menschen? Und das in einer Stadtgemeinde, die sonst bloß etwas über 8.000 Seelen beheimatet? Ausnahmezustand ist wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.
Obwohl die Events des Rahmenprogramms für viele sicher einen Großteil der Anziehungskraft ausmachen, ist es doch mit deutlichem Abstand die Abfahrt auf der Streif, die die meisten Neugierigen anlockt. Sie gilt als eine der schwierigsten Abfahrten der Welt. Kein Wunder also, dass sie für viele besonders seit der Doku Streif – One Hell of a Ride fast Bond-Bösewicht ähnlichen Kultstatus besitzt. Sie ist der Gegner, den die alpinen Spitzensportler Jahr für Jahr bezwingen müssen. Aug‘ in Aug‘, Mensch versus Natur. Mario versus Bowser. Mit allem, was dazu gehört: Von schnaufenden und holprigen Kamerafahrten von Hans Knauss bis zu den skurrilen Kultkommentaren von Armin Assinger. Vorbehalten ist es mittlerweile nur den Herren. Bis 1961 traten allerdings auch die Ski-Damen der Streif entgegen.
Unterschätzte Vorläufer
Sich auf einem derart steilen Hang fast senkrecht in die Tiefe zu stürzen, kostet Überwindung. Das weiß auch Jakob Jägersberger, der 2019 bereits zum dritten Mal in Folge als Vorläufer für Super G und Abfahrt in Kitzbühel am Start war. Die Vorläufer machen genau das, wonach es klingt: Sie fahren vor den eigentlichen Läufern die Pisten ab, um ihnen eine Spur als Orientierung zu ziehen und Jury und Bewerber über die Pistenverhältnisse zu informieren. Muss man einem Ski-Spitzensportler eine Spur vorlegen, die seiner in etwa entspricht, gehört dazu schon einiges an Können. Nichts mit Pflugbogen und Einkehrschwung. Jakob schmeißt sich mit ähnlichem Speed die Piste runter wie seine professionellen Nachfolger.
Viele glauben, dass Vorläufer-Sein eine Art Show ist, etwas, das jeder machen kann. Manche Bewerbungen, die dafür beim Kitzbüheler Ski Club eingehen, belegen das: „Wir wollen unserem Opa zum 65. Geburtstag einen Lebenstraum erfüllen und ihn deshalb als Vorläufer auf der Streif anmelden“, oder: „Ich (17 Jahre) möchte meinem Freund (22 Jahre) die Vorläuferfahrt ermöglichen. Er hat vor fünf Jahren am Semmering Skifahren gelernt und der Skilehrer war echt gut.“ Nope, das spielt’s nicht: Opa würde wahrscheinlich schon beim Ausblick aus dem Starthaus aus den festgeschnallten Latschen kippen. Denn sogar routinierte Skifahrer, die sich über das Casting als Vorläufer qualifizieren konnten, machen manchmal vor Panik auf der Hinterkante kehrt und verweigern, erzählt Jakob.
Der Sieg über sich selbst
Der 24-Jährige selbst weiß genau, was er tut. Schon von Klein auf wollte er Skirennfahrer werden. Eine Zeitlang fuhr er auch Europacup- und FIS-Rennen, bevor er sich selbstständig machte und zum Studieren nach Wien ging. Doch die Streif ist auch für ihn eine immense Herausforderung. Schon Wochen vor dem Rennen beginnt er mit gesteigertem Kraft- und Ausdauertraining, um den Strapazen auf der Piste standzuhalten. Die größte Herausforderung an der Streif? „Die Überwindung, dass man überhaupt aus dem Starthaus wegfährt“, sagt Jakob. Es gibt sicher schönere Ausblicke als fast senkrecht in die Tiefe.
Doch in den letzten Sekunden vor dem Go in dem Starthaus, das so schallisoliert ist, dass man laut Jakob sogar den eigenen Herzschlag hören kann, schiebt er die Angst von sich weg: „Ab den fünf Sekunden bis zum Start denkt man eigentlich gar nicht mehr nach.“ Passiert ist ihm bisher noch nichts auf der Streif. Und das Gefühl der Euphorie, wenn er endlich unbeschadet unten im Ziel angekommen ist, wiegt wohl jede Panik auf. Die Atmosphäre im Ziel ist es bis zu einem gewissen Grad auch, die Jakob antreibt, sich das alles immer wieder anzutun.
Die Faszination, die das Hahnenkamm-Rennen ausstrahlt, begründet Jakob für sich hauptsächlich mit seiner Leidenschaft für den Skisport: „Kitzbühel war immer schon das Event im Jahr, das ich auch im Fernsehen nie auslassen konnte.“ Aber auch der immense Aufwand, den die Veranstalter Jahr für Jahr betreiben, fasziniert ihn: Die Infrastruktur wird mit Hubschraubern auf den Berg geflogen. Wenn zu wenig Schnee liegt, trägt man mal eben Schnee vom Nachbarberg ab. „So viel Aufwand wie in Kitzbühel habe ich bei anderen Skirennen in anderen Ländern noch nicht erlebt“, sagt Jakob.
Als Gast im Partyvolk baden
Als normaler Gast sieht das mit der Faszination schon etwas anders aus. „Ist schon etwas hardcore das Ganze“, schreibt uns Stefanie Oberhauser, die ursprünglich aus Kitzbühel kommt und regelmäßig für das Rennen zurückkehrt. „Man muss sich eben darauf einlassen – dazu gehört ein ganzer Tag in der Kälte mit sehr, sehr vielen anderen Menschen.“ Aber genau das ist es, was für sie hauptsächlich die Anziehungskraft der ganzen Veranstaltung ausmacht. Dass in der kleinen Stadt so unglaublich viel los ist, stört sie nicht – im Gegenteil: Ihr macht das Gewurdel Spaß. Zwischen Tausenden Gesichtern taucht immer wieder ein Bekanntes auf. Und wen man noch nicht kennt, mit dem kommt man hier laut Stefanie erstaunlich leicht ins Gespräch. Da kann das Rennen selbst schon mal etwas in Vergessenheit geraten. Nach Stefanies Einschätzung ist der tatsächliche Bewerb für viele eher nebensächlich – die Dauerparty zählt.
Ob die die Einheimischen nervt? Für Stefanie schwer zu beurteilen: „Es gibt solche und solche. Die einen lieben das Hahnenkamm-Wochenende und die anderen lassen den Trubel eben aus.“ Dass es die Mehrheit wirklich stört, findet sie unwahrscheinlich. Denn die meisten seien ja mit dem alljährlichen Spektakel großgeworden.
Kellnern während des Hahnenkamm-Rennens
Und auch die, die nicht von Klein auf in Kitzbühel leben, scheinen die Menschenmassen nicht großartig zu jucken: Axel Schulz ist gebürtiger Berliner, lebt seit zehn Jahren in Kitzbühel und arbeitet seit fast zehn Jahren als Kellner bei „Rosis Sonnbergstuben“ – einer der wesentlichen Hotspots während der Rennzeit. Da könnte man meinen, dass man als Kellner gehörig ins Schwitzen kommt. Aber Axel sieht’s gelassen: Der Ablauf steht schon weit im Voraus fest und ist für alle Mitwirkenden klar abgesteckt. Da bereitet Axel ein sonniger Sommertag mit 700 A-la-Carte-Gästen deutlich mehr Kopfzerbrechen.
Natürlich sieht er das Ganze dennoch als große Herausforderung, zumal sich hier die Promis wie sonst kaum die Klinke in die Hand drücken. Das öffentliche Auge ist in dieser einen Woche streng auf Kitzbühel gerichtet. Dass Axel während des Rennens nicht vor Ort mitfiebern kann, stört ihn nicht. Dafür kann er danach den einen oder anderen Ski-Star persönlich als Gast begrüßen. Auch schön.
Trotzdem: „Ich drücke natürlich während des Rennens allen Sportlern, die teilnehmen, fest die Daumen.“ Doch auch für Axel macht die Faszination des Rennens nicht nur das Rennen an sich aus. Vielmehr sendet das Hahnenkamm-Rennen aus seiner Sicht ein positives Bild in die Welt hinaus. „Daran mitzuarbeiten, in welcher Form auch immer, ist einzigartig.“
Jetzt juckt’s euch selber in den Skischuhen? Dann macht doch selbst mal das Skigebiet Kitzbühel/Kirchberg unsicher. Ihr braucht erst noch ein bisschen Motivation? Wir erzählen euch, warum Skifahren das Leiwandste ist.