Wir haben Österreichs einzige Wingsuit-Lehrerin begleitet
Aus einem Flugzeug hüpfen, nur mit einem Fallschirm bewaffnet, das muss man sich trauen. Und dann auch noch mit einem Wingsuit durch die Lüfte cruisen, ist sicher nichts für schwache Nerven. Wir haben Österreichs einziger Wingsuit-Lehrerin beim Unterrichten über die Schulter geschaut.
Es ist irgendwann im Juli 2020, angenehm sonnig, relativ windstill. Ein guter Tag zum Fallen – oder Springen, um gleich mal eine philosophische Frage aufzuwerfen. Als wir auf dem Fallschirmsprung-Platz in Wiener Neustadt aufkreuzen, herrscht gemütliche Morgenstimmung. Die noch verschlafene Sonne fällt auf die unterschiedlichsten Camping-Vehikel, die auf dem Rasen neben der großen Halle Spalier stehen, wie zum Beispiel ein alter Öffi-Bus, der mit ein paar Handgriffen und Perlenvorhang-Ästhetik zum fahrbaren Wohnraum umfunktioniert wurde. Bei all der Lässigkeit, die hier aus und ein geht, würde man auf den ersten Blick nicht annehmen, dass sich dieselben tiefenentspannten Menschen wenig später aus einem Flugzeug in die Tiefe stürzen werden.
Auch Lisa und Sonja. Nur etwas anders als die anderen werden sie nicht nach wenigen Augenblicken klassisch vom Fallschirm baumeln, sondern erst mal in ihren Flügelanzügen durch die Luft gleiten, bevor sie die Reißleine ziehen. Lisa ist die einzige weibliche Wingsuit-Lehrerin in ganz Österreich. „Die Szene ist generell eher männerdominiert, auch wenn in den vergangenen Jahren immer mehr Frauen dazukamen“, sagt sie. Und offenbar besonders die Unterkategorie des Wingsuitens – nur zwei weitere Frauen kennt Lisa in Österreich, die im Flügelanzug springen oder gesprungen sind. 25 Waghalsige hat sie bereits ausgebildet: „Alles Männer.“ Bis jetzt.
Lisas erste weibliche Schülerin
Sonja ist Lisas erster weiblicher Wingsuit-Schützling. Das freut Lisa sichtlich. Dass sich immer mehr Frauen den Sport zutrauen, ist ihr ein großes Anliegen. „Ich habe schon fast alle Disziplinen ausprobiert“, erzählt Sonja. „Wingsuit ist das einzige, das mir noch fehlt, also will ich es mal versuchen.“ Einfach mal in einem dünnen Anzug aus dem Flugzeug springen, um zu schauen, ob es einem gefällt – dazu braucht es wohl eine ordentliche Portion Schneid. Und nicht nur den. Um überhaupt dazu berechtigt zu sein, wie Hollywood-Stunt-Double ganzkörperzusegeln, muss man erst mal die Skydive-Lizenz ablegen und dann mindestens 200 Fallschirmsprünge bestreiten, bevor Lisa den Kurs anbieten darf. Sonja ist bereits 380 mal gesprungen, nervös ist sie diesmal trotzdem: „Wenn man dabei die Kontrolle verliert, muss man gut reagieren, um das wieder in Griff zu bekommen. Ich nehme an, das Schwierigste ist das Rausspringen aus dem Flugzeug. Das ist eine eigene Prozedur, bis du mal stabil mit deinem Anzug in der Luft liegst“, sagt Sonja. Helfen kann ihr dabei in der entscheidenden Situation auch Lisa nicht. Denn anders als beim klassischen Fallschirmspringen ist es nicht möglich, sich im Tandem in einen Wingsuit zu quetschen. Die Extremsportler*innen sind ganz auf sich alleine gestellt.
Bodentraining
Aus diesem Grund üben Lisa und Sonja den genauen Ablauf erst einmal auf dem Boden der großen Halle, bevor es hoch in die Luft geht. Während andere ihre Fallschirme verstauen oder bei der kleinen Holzhütte im hinteren Bereich ihre Sprünge buchen, gehen Lisa und Sonja in ihren Wingsuits akribisch jeden Schritt durch. Übungsflugzeug gibt es natürlich keins, also muss man sich die Situation eben vor dem geistigen Auge ausbreiten. Wie steige ich aus? Wie drehe und wende ich mich und wann fliege ich in welche Richtung? Zum Steuern muss man übrigens bloß in die richtige Richtung schauen, alles andere macht der Körper offenbar von selbst. „Manchmal kommt es vor, dass Leute die Kontrolle verlieren und nicht die Linie fliegen, die man sich vorher ausgemacht hat“, erzählt Lisa. „Vor allem, wenn die Distanz zueinander größer ist und der andere stark beschleunigt, kann er einen dabei schlimmstenfalls abschießen.“ Lisa selbst ist das noch nicht passiert; das Brenzligste war eine harte Landung, unter der vor allem der verlängerte Rücken leiden musste.
Das schreckt Lisa nicht ab, im Gegenteil. Vor acht Jahren fing sie mit dem Springen an, vor etwa fünf Jahren schlüpfte sie zum ersten Mal in einen Wingsuit und schmiss sich mit ihm inzwischen auch schon von Heißluftballons, Paraglidern oder Helikoptern. Basejumpen würde sie zwar auch noch reizen, aber das Risiko ist ihr dann doch zu hoch. „Da hast du weniger Höhe und lauter Hindernisse in deiner Umgebung“ – wie Berge oder Häuser. Der Reiz am Wingsuit liegt wohl vor allem daran, dass man sich mit ihm doppelt oder – das kommt auf den Anzug an – sogar dreimal so lange wie beim Fallschirmspringen im freien Fall befindet und sogar wieder aufsteigen kann. Wie beim Carven mit Skiern oder Surfboard.
Hangloose
Generell fühlt sich der Vibe hier erstaunlich ähnlich an wie in einem Surfcamp irgendwo in Portugal. Fallschirmspringer*innen aus allen Windrichtungen reisen mit ihren Camping-Vans, Wohnmobilen und umfunktionierten Bussen an, um ein paar Tage auf dem Flugplatz ihre Zelte oder Vordächer aufzuschlagen. Auch Lisa hat sich mittlerweile ein Auto gekauft, das groß genug ist, um ein Bett einzubauen. Wenn man viel springt, reist man auch zu verschiedenen Events quer durchs Land und sitzt nach dem Sprung gerne auch mal länger beieinander. Da ist es nur praktisch, danach nicht noch in irgendein Hotel gondeln zu müssen. „Beim Springen weiß ich oft nicht viel über die Leute außer, dass sie springen, und ihren Vornamen. Der Rest ist auch völlig egal. Ob Arzt*Ärztin, Mechaniker*in oder Student*in – danach fragt keiner. Jede*r wird so akzeptiert, wie er*sie ist“, sagt Lisa.
Die Flügel ausbreiten
Nach etwa einer Stunde Bodentraining ist das Flugzeug abfahrbereit, Lisa und Sonja gesellen sich zu einer Gruppe Fallschirmspringer*innen hinters Cockpit und heben ab. Wir werden einstweilen mit einem kleinen Bus zum Landeplatz gekarrt. Nur wenige Momente, nachdem wir ausgestiegen sind, purzeln schon die ersten Körper aus dem Himmel, spannen ihre Schirme auf und landen mehr oder weniger sanft auf dem Boden vor uns. Als Letztes sind die beiden Wingsuit-Springerinnen dran und brausen tatsächlich mit nach vorne gestreckten Armen und ausgebreiteten Flügeln durch die Sonne, die inzwischen den Sinkflug zum frühen Nachmittag angetreten hat. Nach wenigen Minuten stehen die beiden auch schon wieder vor uns, mit einem breiten Lächeln im Gesicht und erschöpften Armen.
Sonja war Lisas letzte Schülerin für diese Saison. Dann kamen erneute Lockdowns und der Winter. Lisa hat einstweilen einen Kurs zur Fallschirmspringerlehreranwärterin gemacht, Sonja ist nach ihrem ersten Sprung noch ein paar Mal in den Wingsuit geschlüpft und hat sich mittlerweile einen eigenen gekauft. Seit 15. Mai konnte auch die Fallschirmspringer-Szene schließlich aus dem Lockdown zurückkehren.
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