Alternatives Wohnen: Unser Leben im Gemeinschaftsbau
Conni Spiola wohnt in einem selbstverwalteten Wohnprojekt in Wien. Die Bewohner*innen teilen Gemeinschaftsräume und Autos, kümmern sich um die Finanzierung des Hauses und zahlen Nutzungsentgelt statt Miete. Wir haben sie beim gemeinsamen Putztag besucht.
Es ist Samstagmorgen, 9 Uhr. Hinter einer Haustür in der Krakauer Straße im 2. Bezirk versammeln sich etwa 20 Personen rund um drei Pinnwände. Auf jeder Wand hängt ein Papierbogen mit einer Liste. Fenster putzen steht da zum Beispiel drauf oder Spinnweben entfernen. Jede Aufgabe ist mit unterschiedlich vielen Sternen versehen. “Kehren und wischen” hat drei Sterne und damit die höchste Priorität, “Gerümpel auf den Mistplatz bringen” ist mit einem Stern nicht so wichtig. Nach und nach schreiben Personen ihren Namen zu den Tätigkeiten und warten auf ein Startsignal. Eine von ihnen ist Conni Spiola. Sie wird heute drei Stunden lang die Fenster in den Gängen des siebenstöckigen Hauses putzen. Conni und die anderen im Foyer sind aber keine Putzkolonne, sondern Bewohner*innen vom Wohnprojekt Wien, die heute ihr Haus auf Vordermann bringen.
Das Wohnprojekt Wien ist eine Initiative für gemeinschaftliches Wohnen in Wien. Etwa 70 Erwachsene und 30 Kinder wohnen seit 2013 in dem Haus im Nordbahnviertel und verwalten es selbst. Sie haben es gemeinsam als Verein geplant und finanziert und dafür einen Kredit aufgenommen. Ihre Vision lautet: Individualität in der Gemeinschaft leben. Konkret bedeutet das: Etwa 100 Menschen leben in 39 Wohnungen und teilen sich die Gemeinschaftsflächen im Haus. Eine Werkstatt, Veranstaltungsräume und eine Gemeinschaftsküche zum Beispiel. Außerdem Spieleräume und eine Sauna im Dachgeschoss, eine Bibliothek und Gästeapartments, in denen Besucher*innen übernachten können. Sie haben einen Carsharing-Pool und eine Foodcoop im Haus. Sie kümmern sich um die Finanzen und um den Garten, sie entscheiden in der Gruppe, wer in freiwerdende Wohnungen einzieht (wobei kaum Wohnungen frei werden) und welchen Projekten sich das Haus widmet. Dafür organisieren sie sich in Arbeitsgruppen, diskutieren Vorschläge und suchen Konsent. Und zweimal im Jahr putzen sie gemeinsam.
Frühjahrsputz bei der “Minga”
Conni hat ihre langen, braunen Haare zu einem Dutt zusammengebunden und die Ärmel ihres dunkelblauen Pullis hochgekrempelt. Gemeinsam mit Martin, einem weiteren Hausbewohner, hebt sie die großen Blumentöpfe vom Fensterbrett im 6. Stock und stellt Aloe Veras und Monsteras zur Seite. Martin sprüht das Fenster mit Reinigungsmittel ein, mit Teleskopstangen wischen Conni und er die Scheiben ab. Ganz zufrieden sind sie nicht, denn die Fenster sind außen immer noch schmutzig. Trotzdem ist für beide die Minga, so heißt das gemeinsame Putz- und Aufräum-Event, eines der lustigsten Events im Haus. “Es taugt allen immer, die Beteiligung ist normalerweise sehr hoch, wegen Corona ist das heute ein bisschen anders. Wir drehen dann die Musik auf und oft fahren Kinder mit einem Getränkewagerl durch. Es gibt viel zu tun, um das ganze Haus in Schuss zu halten. Aber es macht Spaß”, sagt Conni.
Die Tradition der Minga (oder auch Minka), kommt eigentlich aus den Anden und beschreibt eine Arbeit in Dörfern, die der Gemeinschaft dient, wenn zum Beispiel das ganze Dorf eine Schule oder andere kommunale Einrichtungen baut. Bezahlt wird dann in Naturalien – nicht nur in den Anden, auch im Nordbahnviertel: In der Gemeinschaftsküche im Erdgeschoss wird den ganzen Vormittag über gekocht. “Bei der Minga entsteht ein besonderes Gemeinschaftsgefühl. Wenn wir mittags zusammen essen, sehen wir, was wir gemeinsam alles geschafft haben”, sagt Martin. Mittlerweile haben sich im Haus mehrere “Sub-Mingas” entwickelt, wie die Garten-Minga oder die Radraum-Minga, weil zwei Termine im Jahr nicht für die viele Arbeit reichen.
Elf Stunden Gemeinschaftsarbeit
Wohnen im Wohnprojekt, das bedeutet nämlich nicht nur, dass Conni und die anderen auf der Gemeinschaftsdachterrasse Yoga machen, die Sauna für ein paar Euro Reinigungsgebühr nutzen oder Kindergeburtstage im Spieleraum feiern können. Es bedeutet auch Arbeit: Elf Stunden muss jede*r Erwachsene im Haus im Monat investieren, ehrenamtlich. “Wir organisieren uns in der Struktur der Soziokratie”, erklärt Heinz Feldmann, Mitgründer und Bewohner vom Wohnprojekt Wien. “Das ist ein Hybrid aus Basisdemokratie und Delegiertensystem. Wir haben Hauptarbeitssgruppen und Untergruppen, die klare Aufgaben und Ziele und ein bestimmtes Budget haben. Im Rahmen dieses Budgets dürfen die Gruppen selbst entscheiden. Wenn eine Entscheidung das Budget oder das Pouvoir überschreitet, dann müssen sie es in den Leitungskreis bringen, in dem sich die alle Hauptarbeitsgruppen abstimmen.” Jede*r kann sich dort einbringen, wo er*sie möchte.
Conni ist in der AG Öko aktiv, die sich um das Thema Nachhaltigkeit im Wohnprojekt kümmert. Sie leitet außerdem eine Untergruppe die sich mit der Frage beschäftigt, ob das Haus geflüchtete Menschen aus der Ukraine aufnehmen soll. Es soll, kommt bei der Abstimmung darüber am Nachmittag heraus. Conni kann das als Gruppenleiterin aber nicht allein bestimmen. “Eine Besonderheit bei der Soziokratie ist, dass man hier keine Mehrheitsentscheidungen trifft, sondern sogenannte Konsent-Entscheidungen. “Konsent heißt, ich kann damit leben und habe keinen schwerwiegenden Einwand dagegen”, sagt Feldmann, der mittlerweile hauptberuflich Gruppen berät und ein Buch für Gründer*innen schreibt. Der Vorteil am Konsent – im Gegensatz zum Konsens: Die Entscheidung wird von einer breiten Mehrheit mitgetragen. “Bei knappen Mehrheitsentscheidungen hintertreiben die Gegner*innen oft die Entscheidung, weil sie sich als Verlierer*innen fühlen und eigentlich dagegen waren. Das ist sehr schlecht für ein Gemeinschaftsgefüge, wenn du Gewinner und Verlierer hast, es sollten ja alle Gewinner sein.”
Wenn Conni in ihrer Wohnung sitzt und vom Leben im Wohnprojekt Wien erzählt, kommen ihr kaum kritische Worte über die Lippen. Sie und ihr Mann David haben es wohl schon oft gegenüber Freund*innen und Familie rechtfertigen müssen, seit sie 2013 eingezogen sind. “Anfangs kam immer der Witz: ‚Und, wie ist es in der Kommune?‘ Dann hab ich immer gesagt: ‚Du, super, jeden Donnerstag ist freie Liebe’”, sagt David und lacht. Konflikte mit Mitbewohner*innen gäbe es natürlich, die Problemlösungskompetenz sei aber irrsinnig hoch und Streitereien daher schnell beseitigt. Aber eine Diskussion nervt Conni dann doch ein wenig. David und sie, beide Anfang 40, haben drei Kinder und so ganz nebenbei arbeiten sie, haben sich jeweils mit einem eigenen Projekt selbstständig gemacht. “Da bleibt einfach nicht so viel Zeit für andere Dinge. Ich würde mir da mehr Verständnis wünschen, wenn es darum geht, wer wieviel Beitrag leistet in der Gemeinschaft. Momentan kann ich einfach nicht mehr tun, wenn die Kinder älter sind wird sich das aber wieder ändern. Dann habe ich auch wieder mehr Zeit für die Aufgaben im Haus”, sagt Conni.
Soziales Engagement im Wohnprojekt
Während die meisten im Haus gerade Gerümpel wegräumen, putzen und wischen, wird in der Küche das Mittagessen für die Gruppe vorbereitet. Zu viert sitzt die Versorgungstruppe um den großen Tisch in der Gemeinschaftsküche und schält Erdäpfel, schneidet Zwiebel und wirft das Gemüse in einen großen Topf. Es gibt Curry, Erdäpfelgulasch und Obstsalat. Währenddessen diskutieren sie über Hausangelegenheiten. Es geht aber nicht etwa um die Minga oder die Beiträge, die jede*r im Haus leisten muss. Sondern um Themen, die gerade weltweit diskutiert werden: Corona und Ukraine. Die Köch*innen überlegen, wem sie eine Portion Essen in die Quarantäne bringen sollen – derzeit sind mehr Bewohner*innen positiv getestet worden als in den vergangenen zwei Jahren zusammen. Und, das ist die viel größere Frage: ob wieder Geflüchtete im Haus aufgenommen werden sollen.
Bereits 2015 hat das Wohnprojekt eines der Gästeapartments für eine Flüchtlingsfamilie aus Syrien freigemacht. Sechs Jahre lang hat die Familie zu dritt in darin gewohnt, im vergangenen Jahr ist sie in eine Wohnung gezogen. Normalerweise werden die drei Apartments im Dachgeschoss vermietet. Entweder intern zu einem niedrigeren Tarif, an Bekannte von Bewohner*innen, die zu Besuch sind. Oder extern, an Leute außerhalb des Wohnprojekts, die dann einen größeren Betrag pro Nacht bezahlen. Kommt erneut eine Familie in das Gästeapartment, fehlen die Einnahmen aus Vermietungen.
Nutzungsentgelt statt Miete und Kauf
Das Wohnprojekt Wien finanziert sich nicht durch die Einnahmen aus den Gästeapartments oder Veranstaltungsräumen, die vermietet werden. Die machen nur einen kleinen Teil aus und sorgen dafür, dass die Betriebskosten nicht aus dem Ruder laufen, erklärt Feldmann. “Am Anfang zahlt jede*r einen bestimmten Betrag in einen gemeinsamen Topf ein, das nennen wir Eigenmittel – ähnlich wie bei einer Genossenschaft. Dann zahlen wir ein monatliches Entgelt, um den Kredit, den wir aufgenommen haben, zurückzuzahlen. Einen Teil legen wir auch für Reparaturen zur Seite.” Das sogenannte Nutzungsentgelt steige aber nicht wie eine Miete mit der Inflation, sondern nur, wenn die Zinsen der Bank sich ändern. “Im Vergleich zur Kaufkraft und zur Inflation wohnst du hier in 20 bis 30 Jahren immer billiger”, sagt Feldmann.
Die Basis für das Nutzungsentgelt seien die Quadratmeter der Wohneinheit, wobei der Preis so kalkuliert sei, dass auch die Gemeinschaftsflächen mitfinanziert werden. Derzeit sind das 10 Euro pro Quadratmeter. Was das in konkreten Zahlen bedeutet? “Für eine 30-Quadratmeter-Wohnung zahlst du zum Beispiel 300 Euro Nutzungsentgelt und am Anfang knapp 20.000 Euro Eigenmittel in den Topf ein. Die bekommst du dann wieder zurück, wenn du ausziehst”, rechnet Feldmann vor. Wohnungseigentümer*in kann man im Wohnprojekt nicht werden: “Auf Dauer ist man Miteigentümer*in vom Ganzen, die Wohnungen kaufen – oder vererben – kann man aber nicht.”
Hippie-Kommune? Fehlanzeige
Auch wenn die Miete im Vergleich zu anderen Wohnungen erschwinglich ist – die Einstiegshürde ist durch die Eigenmittel relativ hoch. Dennoch gibt es für gemeinschaftliche Wohnprojekte in Wien Wartelisten – nicht nur hier im Nordbahnviertel. Auch das selbstverwaltete Wohnprojekt in der Sargfabrik, das bereits in den 90er-Jahren realisiert wurde, ist voll – die Fluktuation ist gering und das Angebot ist gefragt. Wer wohnt in solchen Wohnprojekten und vor allem: warum? Die Gemeinschaft, da sind sich Conni und Martin beim Fensterputzen einig, macht das Wohnprojekt aus. Mittlerweile haben sie sich sprühend und wischend schon zwei Stockwerke nach unten vorgearbeitet. Man unterstütze sich gegenseitig in vielen Lebensbereichen, aus Nachbar*innen sind schnell Freund*innen geworden, erzählt Conni.
Nicht nur Pflanzen schmücken die Wände des Wohnhauses, auch Poster und Deko geben einen Einblick in das Leben der Bewohner*innen. “Der Platz der Frau… ist im Widerstand”, steht auf einer bunten Patchwork-Decke, auf einem Sticker, der gleich neben der Putzradl-Einteilung klebt, steht “Gib jedem Tag die Chance, der beste deines Lebens zu werden”. Vor allem Connis Mann David hatte vor dem Einzug Zweifel, ob das Wohnprojekt das Richtige für ihn ist. “Ich habe immer geglaubt, ich bin zu wenig alternativ dafür”, erzählt der IT-Fachmann. Viele im Haus hätten studiert, David hat eine Lehre gemacht. Die Zweifel hätten sich aber schnell gelegt. “Ich war skeptisch, ob das Wohnprojekt funktioniert, war dann aber positiv überrascht, dass es doch so viele unterschiedliche Charaktere im Haus gibt. Wir sind da wirklich sehr gemischt, was das Alter angeht, aber auch die Persönlichkeiten und Ansichten.” Hippie-Kommune? Fehlanzeige.
Kein Platz fürs Ego
Und doch: Die Menschen, die hier wohnen, sind nicht der Durchschnitt der Gesellschaft. Das zeigt sich bei der Diskussion über die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine, bei der es mehr um das Wie als um das Ob geht. Oder bei der Einrichtung von Soli-Wohnungen, die sich Menschen, die von der Mindestsicherung leben müssen, leisten können sollen. Das Wohnprojekt als elitäre Bobo-Blase? “Es ist nicht billig und es ist insofern elitär, als dass es eine Gruppe von Leuten ist, die das wollen”, meint Heinz Feldmann. “Die elf Stunden im Monat schaffen auch Alleinerziehende mit drei Kindern, das sind zwei Stunden in der Woche. Gerade für Alleinerziehende ist es paradiesisch hier, weil du weißt, die Kinder sind sicher, sie bewegen sich hier frei im Haus, gehen in den Kinderspieleraum und wenn’s einen auf die Goschen haut, dann pickt ihm wer ein Pflaster drauf, spendet Trost und bringt ihn heim.”
Aufeinander schauen, das haben die Bewohner*innen gelernt. “Wenn ich mich auf die Gemeinschaft einlasse, mache ich mich verletzbar, wie in jeder Beziehung. Ich kann daraus lernen, oder ich kann darunter leiden. Ich kann für mich sagen: Ich bin heute weniger Arschloch als ich wäre, wenn ich nicht da wohnen würde”, sagt Heinz Feldmann. Denn die Konflikte im Haus zwingen die Bewohner*innen, das eigene Ego zurückzustecken.
Um 13 Uhr füllt sich nach und nach die Gemeinschaftsküche. Conni schnappt sich einen Teller und füllt ihn mit Reis und Curry. Beim gemeinsamen Mittagessen bedankt sich die “UG Reinigung”, also die Personen, die sich im Haus um dieses Thema kümmern, für die Mitarbeit. Hinter den meisten Tätigkeiten auf der Pinnwand befinden sich Hakerl. Das Gerümpel liegt jetzt nicht mehr im Untergeschoss, sondern auf dem Mistplatz. Die Fenster sind sauber – bis auf eines im zweiten Stock, weil einfach zu viele Pflanzen davor gestanden sind. “Sollten wir festhalten, dass das Fenster im zweiten Stock nicht geputzt wurde?” Zum Abschluss gibt es einen Applaus für alle, die mitgeholfen haben. Während für viele jetzt ihr Wochenende beginnt, bereitet Conni gleich die Abstimmung zur Ukraine-Thematik vor. Sie wird eine Stunde lang das Protokoll führen, bevor das Go der Gemeinschaft fixiert wird. Danach geht es für sie weiter in den Spieleraum – ihr Sohn feiert Geburtstag. Ob ihr im Wohnprojekt ein Rückzugsort fehlt? “Ja, aber das liegt an den Kindern”, sagt sie und lacht. Das eigene Ego hat dann sowieso keinen Platz.
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