Circus Roncalli: Ein Blick hinter die Manege
Eigentlich hätte der Circus Roncalli von 15. September bis 10. Oktober 2021 am Wiener Rathausplatz gastieren sollen. Doch daraus wurde nichts, auch heuer ist das Gastspiel in Wien wegen Corona gecancelt. Als der Zirkus das letzte Mal in der Stadt war, durften wir einen Blick hinter die Kulissen werfen.
Als wir das Gelände des Circus Roncalli am Wiener Rathausplatz betreten, wirkt es, als würde der Zirkus sich gerade zum ersten Mal nach einer langen Nacht ein wenig strecken. Ganz verschlafen stehen die nostalgischen Wagen in der herbstlichen Mittagssonne. Noch kein Zeichen von dem Halligalli und Trara, das hier in drei Stunden die Besucher in die goldene Ära der Zirkuszeit zurückversetzen wird. Nur im Foyer-Zelt riecht es schon ein wenig nach Popcorn.
Die vier Zirkus-Brüder
Neben der Manege sitzen die vier Cedeño-Brüder Brian, Kenny, Rommy und Brandon. Der jüngste von ihnen ist 20, der älteste 29. Und keiner von ihnen hat am Anfang so wirklich Lust, uns ein Interview zu geben. Lieber würden sie wahrscheinlich in der Manege trainieren, doch die ist noch besetzt. Nach ein paar ungelenken Schmähs in gebrochenem Englisch unsererseits tauen sie aber doch ein wenig auf und erzählen uns, dass sie bereits die vierte Generation einer südamerikanischen Zirkusfamilie sind. Sie waren quasi schon in der Wiege on the road. Obwohl sie ursprünglich aus Ecuador stammen, wurden drei von ihnen in einem jeweils anderen südamerikanischen Land geboren. Auf die Frage, ob das nicht ziemlich hart ist, immer unterwegs und nirgends sesshaft zu sein, zuckt Brandon (22) nur mit den Schultern. Er weiß nicht recht, was er sagen soll: „Wir kennen es eben nicht anders. Für uns wäre es härter, wenn wir immer an einem Fleck bleiben müssten.“
Dass sie ihr ganzes Hab und Gut nicht an einem festen Ort haben, sondern immer mit sich nehmen müssen, ist aber auch für die vier Zirkuseinheimischen manchmal hart. Und was ihnen besonders schwer fällt, ist, dass sie ihre Eltern und ihre anderen Geschwister nur ungefähr einmal in Jahr sehen. Denn die übrigen Cedeños arbeiten in einem anderen Zirkus in Südamerika. Aber meistens schafft es die Familie, in der Nachweihnachtszeit für einen Monat zusammenzukommen. Und Sommerpausen gibt’s am Zirkus ja auch. Von welchem Kontinent aus die Cedeño-Brüder in den nächsten Jahren nach Südamerika heimreisen, steht aber in den Sternen. Ja, sogar mit welchem Zirkus sie touren, steht noch nicht fest. Denn Zirkusse haben keine festen Ensembles. Roncalli etwa legt seine Shows wie die aktuelle „Storyteller“-Tour immer auf zwei Jahre an und engagiert die Artisten mit Jahresverträgen. Dann gehen die Brüder zum nächsten Zirkus. Und zum nächsten. Und zum – ach, ihr wisst schon.
Manege frei!
Langsam füllt sich der Schmale Gang vom Vorhang zur Manege mit einigen Zirkus-Mitarbeitern, die gemeinsam ihr Workout starten. Vom Laptop aus spielen sie Übungen ab. Sanft machen sie ein paar Liegestütze und Sit-ups. Und auch die Cedeños wollen sich sichtlich bewegen. Rommy wippt mit dem Bein, Brandon schaut immer wieder abwartend auf die Manege. Endlich ist sie frei und sie können ihr Schleuderbrett aufbauen. Die Nummer, die sie jetzt trainieren werden, kommt allerdings nicht in der Storyteller-Show vor. Da zeigen sie ihre gefeierte Ikarier-Nummer, bei der ein Artist rücklings auf einem Stuhl liegt und einen anderen mit den Beinen herumwirbelt.
Wir blinzeln zweimal und schon stehen zwei Cedeños auf einem Gerüst, haken sich unter und springen auf den Balken. Der schleudert ihren Bruder in die Höhe. Diesmal ist Rommy dran. Wie selbstverständlich dreht er sich in Salti um sich selbst und landet unsanft auf der zur Sicherheit aufgelegten, dicken Matte. Ein paar Mal geht das hin und her, bis plötzlich eine Jonglage-Keule im Spiel ist. Und wieder springen zwei auf den Balken, ein dritter wird hochgeschleudert und ein vierter wirft ihm die Keule nach. Autsch. Getroffen. Rommy landet auf der Matte, hält sich kurz das Schienbein. Und lacht. Alle lachen. Wir schauen uns verblüfft an. Jede von uns hätte sich vor Schmerz wahrscheinlich schon längst auf dem Boden in Embryostellung zusammengekauert. Aber die Schmerzgrenze liegt für so erfahrene Artisten wie die Cedeños offensichtlich woanders.
Bis an die Schmerzgrenze und noch viel weiter
Ganz locker erzählen sie uns später, dass Rommy sich vor sieben Jahren bei einem Auftritt so schwer verletzt hat, dass sie ihn in der Manege wiederbeleben mussten. Danach lag er für drei Tage im Koma. Schockiert droppt unsere Kinnlade ein paar Etagen. Die Brüder amüsieren sich über unsere Reaktion. Für sie ist die Geschichte offenbar längst kein Drama mehr. Ob Rommy danach Angst hatte, wieder in die Manege zu gehen? Er winkt nur lässig ab und spielt mit der Jonglier-Keule.
Als wir uns die Storyteller-Show etwas später am Abend ansehen, passiert ausgerechnet bei der halsbrecherischen Ikarier-Nummer ebenfalls ein Hoppala. Während des gegenseitigen Herumwirbelns rutschen zwei Brüder ab und plumpsen vom Sessel. Kurzes schockiertes Aufkeuchen vom Publikum. Für eine Sekunde ist es klirrend still in der Manege. Doch die Cedeños hüpfen auf, klopfen sich den Staub von den schwarzen Hosen und machen weiter, als wären sie gerade eben erst in die Manege eingelaufen.
Vom Kellner zum Artisten
Während die Brüder zu Mittag trainieren, gesellt sich Valentino, ein Mitarbeiter vom Gastro-Wagen zu ihnen. Schon an seinem Gang und der Haltung merkt man, dass er ausgebildeter Tänzer ist. Und schon steht er am Katapult und wird von den Cedeños in die Luft geschleudert. Zwar vielleicht nicht so hoch und so schnell wirbelnd wie sie. Aber auch er landet nach ein paar Drehungen gekonnt auf der Matte. Nach ein paar Monaten als Kellner im Gastro-Wagen verließ Valentino am vergangenen Wochenende Roncalli übrigens, weil er selbst ein Artisten-Engagement in einem anderen Zirkus bekommen hat. Es ist nicht unüblich, dass Gastro und Manege sich hin und wieder überschneiden. Wenn ständig Artisten um einen herumschwirren, ist es nur logisch, dass es einen irgendwann selbst ins Scheinwerferlicht zieht. So war es jedenfalls auch bei Kellner Benni und Koch Mustafa, die in der zweiten Halbzeit der Storyteller-Show in zwei Elefantenkostümen durch die Manege ziehen.
Während die Cedeños und Valentino weiter am Katapult tüfteln, schleichen wir uns in den Gang, der hinter dem Vorhang rund um die Manege verläuft. Plötzlich stehen wir vor dem Luster, an dem sich später die „Queens of Baroque“ empor winden werden. Wir sehen auch das Requisiten-Pferd, das mit zwei Männern in seinem Rumpf und einem Pferdeführer die Show eröffnen wird. Damit und mit den gespielten Elefanten erinnert Roncalli einerseits an die alte Zirkustradition, die dressierte Tiere in der Manege zeigte. Andererseits weist man damit aber auch darauf hin, dass man sich von dieser Art der Attraktion längst distanziert hat. Besonders ins Auge sticht uns backstage ein ferngesteuerter Hund, zusammengebastelt aus Altmetall. Er gehört zum italienischen Clown Paolo Carillon und begleitet ihn bei seinem Steampunk-Act.
Der Mechaniker unter den Clowns
Mittlerweile ist es 14 Uhr und langsam trudeln auch die anderen Artisten ein. Die meisten von ihnen wohnen nicht direkt am Rathausplatz beim Zirkus, sondern haben ihre Wohnwagen bei St. Marx stehen. Sie teilen es sich selbst ein, wie kurz vor der Show sie im Zirkus auftauchen. Wo sie trainieren und sich aufwärmen, entscheidet auch jeder für sich. Wir verlassen die Manege in Richtung der Wagen, in denen die anderen Zirkus-Mitarbeiter wohnen, wie etwa das technische Personal. Auf einem der hinteren Anhänger klebt das Schild „Schneiderei“. Drinnen probiert gerade eine Artistin ihr Kostüm an. Direkt gegenüber, in einem viel kleineren Wagen, schminkt sich Clown Paolo für die Show. Wir klopfen. „Dürfen wir stören?“ „Klar, kommt nur herein.“ Paolo winkt uns lächelnd zu sich.
Steampunk und Vintage-Zauber
In seiner Garderobe fühlen wir uns wie in einem Artistenfilm aus den 20ern. Auf einer Stange hängen unzählige Kostüme, große Clownsschuhe warten auf dem Boden, alte Lederkoffer stehen unter dem Schminktresen. Die hat Paolo übrigens entweder vom Flohmarkt oder muss sie sich selbst basteln, weil seine ausgefallenen Requisiten in keinen Norm-Koffer passen. Eine davon ist sein unglaublich hoher Zylinder. Lächelnd zeigt er uns, was es damit auf sich hat: Der Hutdeckel schnappt auf – hier würden beim Auftritt Seifeblasen aufsteigen. Aus der Hutfront schießt ein kleines Vögelchen.
Dann legt er sich eine Art Brustpanzer an, der mit Stoff überzogen ist. So sieht es auf den ersten Blick aus, als hätte er einfach ein etwas voluminöseres Hemd an. Doch dann schnappt der Panzer auf: Rädchen, Schrauben und ein leuchtendes Lämpchen in Herz-Form springen uns entgegen. Auch hier würden beim Auftritt wieder Seifenblasen aus der Requisite sprudeln. Begeistert zeigt uns Paolo sogar noch eine überdimensionale Schraube, mit der er so tun kann, als würde er sich selbst aufziehen. Alles passt zusammen.
All diese Requisiten designt und baut Paolo selbst. Er durchforstet immer mal wieder Flohmärkte und verleiht so nutzlos gewordenen Dingen neuen Zweck: „Ich liebe es, alten Dingen eine neue Chance zu geben“, sagt er, während er sich präzise Weiße ins Gesicht streicht. Die muss von der Nachmittagsvorstellung um 15:00 Uhr bis zum Ende der Abendvorstellung um 22:15 Uhr halten.
„Das hat wirklich mein Leben verändert“
Anders als die Cedeños stammt Paolo nicht aus einer Zirkusfamilie. Ursprünglich ist er nämlich Mechaniker. Seine Leidenschaft für die Clownerie geht aber zurück auf seine Kindheit. Von da an hat sie sich sukzessive aufgebaut. Auftritte auf Galas folgten, auf Conventions, und ab und zu im Zirkus. Aber da nie länger als für einen Monat. Auf einer Gala in Frankreich brachten ihn andere Clowns schließlich dazu, sich beim Zirkus Roncalli zu bewerben. Sein Mix aus Steampunk, Vintage und Viktorianischem Stil würden schließlich ideal zur nostalgischen Roncalli-Welt passen. Nach drei Tagen hatte Paolo die Zusage. „Es ist das erste Mal seit Langem für mich, dass ich im Zirkus auftrete. Das hat wirklich mein Leben verändert.“ Er kann sein Glück immer noch kaum fassen. Und dabei ist er schon in der dritten Saison mit von der Partie.
Im Gegensatz zu den Cedeños ist Paolo aber das ständige Leben auf Rädern nicht von Klein auf gewöhnt. „Am Anfang war es schwer“, nickt er. „Aber ich liebe dieses Leben.“ Und weil Italien um einiges näher ist als Südamerika, kann er seine Familie ein paar Tage im Monat besuchen. Immer wieder checkt Paolo die große Uhr über seinem Spiegel. Wir haben uns ein wenig verplaudert. Jetzt muss er sich echt ranhalten – es ist schon 14:30 Uhr.
Back to reality
Während er sorgfältig Farbschicht um Farbschicht aufträgt, verlassen wir seine Garderobe wieder. Schon von Weitem hören wir, dass sich vor dem Zirkus wildes Treiben abspielt. Als wir näher kommen, stapfen Menschen auf Stelzen in pompösen Kostümen durch die Besuchermenge.
Einer der Clowns steht vor dem Zelteingang und jongliert. Währenddessen hat er es sogar irgendwie geschafft, uns mit Wasser anzuspritzen. Wir durchqueren das Gastro-Zelt, vorbei an einem historischen Popcornwagen, vorbei auch an den modernen Popcorn-Boxen, die jetzt auf Hochtouren laufen. Und schon stehen wir wieder draußen. In der Realität. Als hätte man uns unsanft aus einem bunten Traum in Sepia gerissen.
Ihr wollt auch hinter andere Kulissen schauen? Dann kommt mit uns ins Salzburger Marionettentheater. Oder ihr seht euch an, wie eine lebende Statue eigentlich privat so drauf ist.