Zu Besuch beim Puppendoktor in Wien
Mit festem Griff zieht Karin Cink an den kleinen Beinchen und trennt sie mit einem Knips vom Torso. Fast wie auf einem OP-Tisch liegt die alte Holzpuppe nun in ihren Einzelteilen da. „Man muss schon wissen, wie man’s macht“, meint Cink schulterzuckend. Seit fast 30 Jahren arbeitet sie für die Puppendoktorin Karin Haider, die ihr Geschäft nur etwas länger am Stubenring in Wien führt.
Skrupel zuzupacken gibt es auch in Manfred Reichels Puppenklinik im vierten Bezirk nicht. Er zeigt uns eine Puppe mit Stoffkörper, bei der ein Auge nicht mehr schließt. „Sie hat einen Vinyl-Kopf. Wenn man den ins heiße Wasser gibt, wird er ganz weich und man kann die Augen rausdrücken“, erzählt er. Überwindung ist das für ihn längst keine mehr. Bereits als Kind habe er sein Spielzeug immer in Einzelteile zerlegt, um zu sehen, wie es funktioniert.
Obwohl die Zunft der Puppendoktorinnen und -doktoren eigentlich längst am Aussterben ist, gibt es offenbar auch heute noch einen gewissen Bedarf daran. Immerhin auch nachvollziehbar, dass man sein allerliebstes Spielzeug so lange wie möglich erhalten möchte und nicht ungeschaut durch ein neues, besseres Modell austauscht. „Unsere Zielgruppe sind Leute, die mit ihren Puppen ideelle Werte verbinden. Ob das jetzt die Oma mit 90 ist, die eine Puppe aus ihrer Kindheit hat, oder ein kleines Kind mit einer Babyborn-Puppe, ist egal“, sagt Karin Haider.
Die ideellen Werte
„Ideelle Werte“, das ist offenbar insgeheim der Slogan aufrechter Puppenchirurginnen und -chirurgen. Denn auch Manfred Reichel versichert uns, dass es den meisten Kunden nicht darum geht, einen möglicherweise wertvollen Spielzeugfund vom Dachboden der Urstrumpftante zu verscherbeln. Sondern es geht darum, Geliebtes zu erhalten. Und das meist über Jahrhunderte hinweg: Die älteste Patientin von Puppendoktorin Haider ist eine 130-jährige Wachspuppe, von der allerdings nur mehr der Kopf in der Spielzeugordination steht. Ihre düsteren Augen, vergilbten Gesichtszüge und strähnigen Haare sind deutlich geschichtsträchtigere Altersspuren als Knabberabdrücke von Kindergebissen an Barbie-Füßen.
Allround-Treatment für Teddy und Co.
Egal ob Spliss bekämpfen, Kleidung schneidern oder Auas reparieren – ein Puppendoktor, eine Puppendoktorin kümmert sich um die kleinen leblosen Patienten vom Scheitel bis zur Sohle. Karin Haider zeigt uns eine Puppe, die mit ihren Lockenwicklern fast so aussieht, als säße sie mit Kaffee und Klatschzeitschrift unter der Trockenhaube beim Frisör. Auch outfittechnisch muss man als waschechte Puppenexpertin auf dem neuersten Stand sein: „Für die alten, antiken Puppen schneidern wir die Kleider, wenn die Kunden bestimmte Wünsche haben. Für die neueren Puppen gibt es die Outfits eh von der Stange“, erzählt Haider.
Besonders gerne passt Manfred Reichel Schnitte der Jahrhundertwende an seine antiken Models au miniature an. Im Gedächtnis geblieben ist ihm vor allem ein Kunde mit einer alten Puppe, die er aufwendig anziehen wollte: „Er hat mir ein Foto von einem Kleid mitgebracht und eine schöne Robe aus 1890 in Wasserblau – die teuerste Farbe für Kleider damals.“ Als Reichel sich weigerte, in die textile Kostbarkeit hineinzuschneiden, nahm der Kunde kurzerhand die Schere und setzte den ersten Schnitt selbst. So, jetzt müssen Sie reinschneiden, habe er gesagt. „Schon verrückt, wenn man sich das anhört“, meint Reichel. „Bei einer Auktion hätte er noch Geld dafür bekommen.“
Den Puppeneltern Beistand leisten
Manchmal ist der Puppendoktor, die Puppendoktirn nicht nur spielzeugmedizinisch involviert, sondern auch Therapeutin oder Therapeut für die Angehörigen. Denn hinter so gut wie jeder Beziehung zum Lieblingsspielzeug aus Kindheit oder Alter steht eine individuelle Geschichte. Karin Haider erzählt uns etwa von einem älteren Mann, dessen Gattin kürzlich verstorben war. Ihre Lieblingspuppe aus Pappmaschee wurde bei einer Überschwemmung ziemlich ramponiert. „Wir konnten sie wieder reparieren, unter anderem mit einer neuen Perücke und neuen Augen. Sie war zwar immer noch leicht aus der Form, aber dem Mann war das egal. Er war einfach froh, dass wir die Lieblingspuppe seiner Frau retten konnten.“
Der Rettungseinsatz gleicht also meistens eher einem chirurgischen Eingriff als einem fröhlichen Make-Over Marke Model-TV-Show. Gerade bei älteren Puppen braucht es dazu ein gehöriges Materialwissen und eine große Portion Erfindungsreichtum. Wie etwa bei Augenbeschwerden: „Alte Puppen schielen oft“, erklärt Reichel. „Das liegt daran, dass zwei Augenkugeln auf ein Drahtgestell geklebt wurden. Damals hat man Teer dafür verwendet. Je älter der wird, desto mehr trocknet er aus und zieht sich zusammen.“ Entweder er zerlegt das Ganze und bringt die Augen wieder in visuell nicht einschränkende Stellung. Oder er lässt den Puppen ihren Makel: „Oft schaut’s lieb aus, wenn sie so ins Leere schauen.“ Schädelfrakturen von Porzellanpuppen werden geklebt und geschliffen. Vinyl-Köpfe werden erhitzt und genäht. Extremitäten werden amputiert und transplantiert. „Bei alten Teddybären nehme ich oft den Fuß ab und unterklebe ihn innen mit Folie und Stoff, um ihn zu stabilisieren. Bei alten Kuscheltieren bringt der Stoff nämlich oft“, erklärt Reichel.
„Puppendoktor ist kein Lehrberuf“
Diesen puppenmedizinischen Part kann man allerdings nicht ausbildungsmäßig erlernen. Ursprünglich geht der Beruf des Puppendoktors, der Puppendoktorin auf die Frisörinnen und Frisöre zurück. Da die Puppen damals Echthaar-Perücken trugen, lag es auf der Hand, sie in den Haarsalon zu bringen. Je nach Geschicklichkeit reparierte man auch hier mal etwas, besserte dort mal einen Schnitzer aus. „Puppendoktor ist kein Lehrberuf“, erzählt Karin Haider. „Ich bin ursprünglich Einzelhandelskauffrau. Das meiste muss man sich selbst erarbeiten.“ Manfred Reichel hingegen ist ausgebildeter Dekorateur. Das und das eine oder andere Anleitungsbuch haben ihm den Einstieg ins Restaurateur-Metier etwas erleichtert. „Diese Techniken interessieren mich einfach. Ich versuche, immer authentisch zu arbeiten.“
Die Authentizität zu wahren, ist aber gar nicht so einfach, weil man oft nur schwer an die richtigen Materialien herankommt. Die Einziehgummis für Puppen kauft Reichel etwa bei einer Firma, die Bungee-Seile herstellt und diese Gummis als Nebenprodukt verkauft, wenn es die Zeit oder das übriggebliebene Material erlauben. Die Pappschalen für die Gelenke der Porzellanpuppen hat er aus der Autoindustrie. „Wenn sie zum Beispiel eine Abdeckung pressen, legen sie auch Teile für andere Produktionen mit hinein. Auch die Einziehhaken für die Hälse werden da mitproduziert.“ Vieles hat er aber gezwungenermaßen auch aus China oder von Ebay.
Reparieren statt in die Tonne treten
Durchforstet man die Lager von Reichel und Haider, findet man sich in einer etwas berückenden Armada aus Puppenkörperteilen wieder. Hier ein Karton mit Köpfen, dort eine Schachtel mit Beinen. Das meiste kommt von anderen Puppendoktoren, deren Bestand sie wegen Schließung aufgekauft haben. Manches wird auch von nicht zu rettenden Puppen transplantiert.
Das ist bei modernen Puppen allerdings problematisch, fast sogar ärgerlich: „Die Babyborn-Puppe wird von der Erzeugerfirma leider als ‚Wegwerfprodukt’ erzeugt. Um diese Puppen reparieren zu können, bräuchten wir Ersatzteile, die uns leider nicht zur Verfügung gestellt werden“, erzählt Haider. Auch der flammende Barbie-Sammler Reichel beobachtet diese Entwicklung bei seinen Lieblingsminiaturdamen: „Früher waren sie leicht zu reparieren. Wenn ein Fuß kaputt war, hat man ihn einfach ausgetauscht. Heute sind sie so produziert, dass man die Einzelteile nicht mehr austauschen kann. Man soll am besten gleich eine Neue kaufen.“ Letztlich geht es den Puppendoktorinnen und Puppendoktoren also neben ideellen Werten und der Liebe zu ihren kleinen Patienten auch um eine Kritik am leichtfertigen Wegwerfen im Einsatz für die Nachhaltigkeit. Dieser Einsatz hat allerdings auch seinen Preis: „Natürlich ist die Reparatur mit finanziellem Aufwand verbunden. Es stehen ja intensive Zeitarbeit und Know-How dahinter“, sagt Reichel. Ein Glück, dass es in der Spielzeugszene um mehr als nur ums Geld geht – da haben wir sie wieder, die ideellen Werte.
Diese Reportage ist im März 2018 entstanden. Alle beschriebenen Situationen und Zitate stammen aus diesem Zeitraum.
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(c) Beitragsbild | Ines Futterknecht | 1000things