„Schirme sind im Prinzip tragbare Dächer“: Zu Besuch beim Schirmmacher
Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, dass Schirme eigentlich nichts anderes sind als kleine, tragbare Dächer? Wir auch nicht – bis wir Schirmmacher Tobias Ott in der Schirmmanufaktur Kirchtag besucht haben. Was der aufspannbare Regenschutz mit Instrumenten und Dächern gemeinsam hat, erfahrt ihr hier.
In einer kleinen Werkstatt unter dem Dach eines Hauses in der Salzburger Altstadt lehnt Tobias Ott locker an seiner Werkbank. Das Licht fällt sanft durchs Fenster, es ist noch sehr früh. Wie von selbst läuft eine Klaviersaite durch seine Finger. Er misst sie mit den Augen und biegt sie mit einer Zange zurecht, während er mit uns spricht. Um das so flink zu können wie er, braucht man ein bis zwei Jahre. In einigen Minuten wird die Saite allerdings nicht in ein Instrument eingefädelt, sondern in einen Schirmstock. Dort dient sie als Feder.
Handgemachter Regenschutz
Tobias Ott ist Schirmmacher. Mit sanftem Blick und ruhigen Händen stellt er die Schirme der über 100 Jahre alten Schirmmanufaktur Kirchtag in Salzburg her. Wenn er fertig damit ist, das Holz zu lackieren, die Klaviersaiten als Federn einzuziehen und die Aufspannvorrichtung anzubringen, geht der nackte Schirm weiter zur Schneiderei neben der Werkstatt. Die Mitarbeiterinnen dort schneiden den Stoff zurecht und bringen ihn am Schirm an.
Was wir bis zu unserem Besuch eigentlich eher mit störrischen Knirpsen und Fundgruben der Öffis verbunden haben, wird hier zum Unikat. „Das Prinzip Schirm ist zwar immer dasselbe, aber in 1.000 Variationen“, sagt Ott. Da Kirchtag aber eine der letzten Schirmmanufakturen ist, musste man bei der Materialbeschaffung kreativ werden: Die Bezüge stammen etwa aus kleinen Webereien in Mailand, die eigentlich Stoffe für Krawatten herstellen. Von aufgelassenen Schirmmachereien kauft man Schirme und spezielle Werkzeuge zu, die es sonst nicht mehr gibt. „Da sind wir ganz klar Erbschleicher“, sagt Ott mit ruhiger Stimme, bevor ihm ein Grinser entwischt.
Dachdecker im Kleinformat
Schirme macht er aber erst seit sieben Jahren. Ursprünglich war er Holzkaufmann, hat klassisch-indische Musik studiert und arbeitete als Dachdecker. Musik macht er immer noch – vor allem elektronische Musik mit seiner Gruppe Deneb –, das Dachdecken hat er inzwischen an die Wand genagelt. „Als Dachdecker über 50 sehnt man sich irgendwann nach einer Arbeit an der Tanke oder als Nachtwächter“, erklärt Ott. „Und was ich hier mache, ist dem Dachdecken irgendwie artverwandt: Ich stelle kleine, tragbare Dächer her.“ Schon wieder ein flüchtiger Grinser.
Schirmmachen ist kein Lehrberuf. Das war es auch schon vor sieben Jahren nicht mehr, als Ott umgesattelt hat. Daher besitzt er auch keinen Gesellenbrief. Gelernt hat er die spezielle Handwerkskunst aber auch ohne Wisch von einem routinierten Lehrmeister, der 40 Jahre lang bei Kirchtag als Schirmmacher gearbeitet hat. Und auch Ott gibt sein Wissen weiter an einen jungen Geologie-Studenten, der hier seit drei Jahren von ihm lernt. Das Interesse ist also da, das Gewerbe dank Massenproduktion und Optimierung der Herstellungsprozesse in unseren Breiten nicht mehr. China hat inzwischen den Schirmmarkt übernommen, erzählt uns Ott, und zeichnet für 80 bis 90 Prozent des Marktes verantwortlich.
Schirmtourist*innen und Requisitenschirme
Auch die Nachfrage nach handgemachten, individualisierbaren Schirmen ist erstaunlich groß und vielfältig. „Das Schönste ist, wenn die Kunden zu mir in die Werkstatt raufkommen“, erzählt Ott. „Das sind mitunter Leute aus Moskau, Shanghai oder New York.“ Sie können dann aus 20 verschiedenen Holzarten ihren Schirmstock wählen, aussuchen, ob er mit Messing oder Aluminium besetzt und welcher Stoffbezug darüber gespannt werden soll. Das Abstimmen des Schirms auf seine Träger*innen scheint Tobias Ott also am meisten Freude zu machen. Das Ergebnis kostet dann aber auch entsprechend – 230 Euro aufwärts. So einen Schirm hat man aber andererseits auch ein Leben lang. Wenn man ihn nicht gedankenverloren in der U-Bahn zurücklässt.
Jedenfalls stellt man in der Manufaktur Kirchtag nicht nur neue Schirme her, man rettet auch ramponierte: „Wir haben eine Art hippokratischen Eid geleistet, was die Schirmreparatur angeht. Wir können fast jeden reparieren.“ Außerdem fertigt er auch Requisitenschirme für Theater, Film und Fernsehen an. Und tatsächlich hängt hinter unseren Köpfen ein kleines, fragiles, irgendwie barockes Exemplar für die Bühne.
Parallelen zum Instrumentenbau…
Inzwischen ist die Klaviersaite in Tobias Otts Händen längst fertig gebogen. Sie stammt übrigens aus dem mittleren Klavierregister und ist 1,2 Millimeter stark, erklärt er. Plötzlich spricht der Musiker aus ihm. Und als er dann auch noch anfängt, an der Feder zu zupfen, wird klar, dass der Schirm vielleicht gar nicht so weit weg ist vom Instrument. Die Saite wechselte quasi bloß vom Klavier zum Daumenpiano: „Wenn die Feder fertig und eingesetzt ist, muss sie einen bestimmten Klang haben.“ Tick, tick – ein helles, metallisches Zirpen ertönt. „Wenn sie nicht so klingt, liegt sie seitlich am Holz an. Dann hat man sie falsch eingesetzt und ihre Lebensdauer ist nicht so hoch.“
…und zur Dachdeckerei
Und auch zu Tobias Otts ursprünglichem Metier, der Dachdeckerei, gibt es immer wieder Parallelen. Als er mit der Hand über die rohen Schirmstöcke streift, erklärt er uns zum Beispiel, dass sie von einem Hersteller aus Norddeutschland stammen. Dort werden die ungekrümmten Stöcke in Wasser eingelegt und dann gebogen. „Das ist wie bei den Holzschindeln, die man für Zwiebeldächer verwendet“, erklärt Ott begeistert. „Die werden auch vorher eingelegt und dann zurechtgebogen.“ In der Kirchtag-Werkstatt werden die Hölzer dann geschliffen und in Leinöl eingelassen. Ott hält inne, fährt mit der Hand über die Rundungen und zieht schließlich einen Stock aus Kirschholz hervor. „Nach der Bearbeitung riecht das Holz wie die Frucht, die sein Baum trägt.“ Ott hält uns den Stock unter die Nasen – und es stimmt: Er riecht irgendwie nach Kirschblüten. Oder zumindest Blüten. Jedenfalls müssen die Hölzer nach ihrer Bearbeitung gut ein Jahr lagern, bis sich das Holz nicht mehr verzieht. Auch darin sieht Ott wieder eine Parallele, diesmal wieder zur Musik: Aus demselben Grund müssen auch neue Geigen erst einmal eine Zeitlang ausharren, bevor sie gespielt werden können.
Tobias Otts respektvoller Umgang mit seinen Werkstücken zeigt uns, dass der profane Schirm so viel mehr sein kann als unliebsames Anhängsel an Regentagen: Einmal ist er zweckentfremdeter Klangkörper, dann wieder kleines, tragbares Dach. Vorsichtig dreht Ott schließlich einen fast fertigen Schirm in seiner Hand, dem nur mehr sein Stoffbezug fehlt, und deutet auf eine Schiene der Aufspannvorrichtung: Man nennt sie auch Dachteil.
Ihr wollt noch mehr einzigartiges Handwerk? Dann begleitet uns bei unserem Besuch im Salzburger Marionettentheater. Und wenn ihr doch eher den schönen Künsten zugetan seid, dann solltet ihr uns am besten nicht beim Jodeln zu hören – lustig ist es aber zumindest. Unsere Reportagen findet ihr übrigens gesammelt in einer Liste. Folgt der Liste, um keine Updates zu verpassen.